Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Doris Kocher
Издательство: Bookwire
Серия: Studies in English Language Teaching /Augsburger Studien zur Englischdidaktik
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301691
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kontinuierliche und vielseitige Erfahrungen führen schließlich zu Verhaltenseigenschaften (habits), „die dem Wissen einen Kontext, einen interpretativen Rahmen von Verwendung und Bedeutung geben, der für das Lernen unerlässlich ist“ (Ebd., 71). John Dewey gibt mit seinem Ansatz die dualistische Sichtweise von Körper und Geist bzw. Individuum und Gesellschaft auf und vertritt eine kulturtheoretische Perspektive, „die heute wieder hochaktuell ist“ (Ebd.).

      Deweys „pragmatische Theorie der Wahrheit als eines Konstruktionsprozesses“ (Hickman 2004, 12), seine stark ausgeprägte demokratische Überzeugung, seine Kunst- und Kulturtheorie, seine Vorstellung, dass sich Lernprozesse nicht vom sozio-kulturellen und historischen Kontext trennen lassen, sein Fokus auf Kommunikation und Interaktion sowie sein „Verständnis des experience“ (Reich 2004, 42), welches wiederum dem Viabilitätskonzept des Konstruktivismus nahekommt, schlagen sich schließlich auch in seiner expliziten Formulierung von pädagogischen Konsequenzen nieder, die einen starken Bezug zu instrumentellem und experimentellem Handeln zum Zweck des Problemlösens aufweisen (learning by doing) und weitgehend auch auf den Storyline Approach zutreffen (vgl. Kapitel 2.3). Er arbeitete das so genannte Fünferschritt-Modell erfolgreichen Lernens aus, entwickelte zusammen mit William H. Kilpatrick ein umfassendes Konzept der Projektmethode und gilt als wichtiger Vertreter einer konstruktivistischen Didaktik.3

      Auch Entwicklungen in der modernen Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts beeinflussten die Vorstellungen der Menschen von der Wirklichkeit radikal, als nämlich aufgezeigt wurde, dass „die Wirklichkeit beobachtungsabhängig ist“ (Siebert 2005, 8). So wird Albert Einstein gelegentlich als der berühmteste Konstruktivist bezeichnet. Aber nicht nur Einsteins Relativitätstheorie, sondern auch die von Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger begründete Quantentheorie erschütterte unser Weltbild, da die dort beschriebenen Effekte zum Teil nicht „mit den Gesetzen der klassischen Mechanik (...) erklärbar“ sind (von Ameln 2004, 18). Interessant sind auch die erkenntnistheoretischen Dimensionen der Publikation Laws of Form von George Spencer Brown (1997), die zahlreiche Bezüge zu konstruktivistischen Ansätzen (z.B. zu Maturanas Autopoiesis-Theorie, zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme oder zu Kellys Psychologie der persönlichen Konstrukte) aufweist. Spencer Browns Kernaussage lautet, dass jeder Wahrnehmungsvorgang – und somit auch der Zugang zur Welt – auf dem Treffen von Unterscheidungen beruht.

      Die oben aufgeführten Positionen haben nicht nur den interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs angeregt, sondern indirekt und vor allem über den Radikalen Konstruktivismus auch die systemische Praxis und die Pädagogik beeinflusst.

      3.2.2 Jean Piagets genetische Erkenntnistheorie

      Der Biologe, Psychologe und Philosoph Jean Piaget (1896-1980) gilt nicht nur als einer der bedeutendsten Erforscher der kindlichen Entwicklung, sondern er wird auch als zentraler konstruktivistischer Denker bezeichnet. So hat sich unter anderem Ernst von Glasersfeld (1994) intensiv mit Piagets Arbeit auseinandergesetzt und ihn als „Pionier der konstruktivistisch orientierten Kognitionsforschung“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet (Ebd., 18). Piaget suchte in dem von ihm in Genf gegründeten Internationalen Zentrum für genetische Epistemologie den intensiven Dialog mit Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen (z.B. Einstein) und war sein Leben lang ein reger Forscher, der vor allem auch seine eigenen drei Kinder intensiv studierte. Er verstand sich allerdings nicht als Entwicklungspsychologe, sondern als Erkenntnistheoretiker (Scharlau 2007). Eines seiner Hauptanliegen war, die Erkenntnistheorie „von einer philosophischen zu einer experimentellen und biologischen Wissenschaft zu machen“ (Müller 1996a, 34), sie also zu verwissenschaftlichen.

      Piagets lebenslanges zentrales Erkenntnis- und Forschungsmotiv war die Frage, „wie Erkenntnis im Kind entsteht und sich im Lauf der menschlichen Entwicklung verändert“ (Fatke 1981, 15). In diesem Sinne führte er beispielsweise schon als Kind zahlreiche Verhaltensbeobachtungen an Tieren durch und stellte später im Falle von Muscheln fest, dass diese sich, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen, „intelligent“ an ihre jeweilige Umgebung anpassten, ohne jedoch eine visuelle Repräsentation ihrer Umwelt zu haben. Das Zusammenspiel von Organismus und Umwelt in der Entwicklung der Arten hat seine Sichtweise in der Intelligenzforschung entscheidend geprägt. So kam er unter anderem zu dem Schluss, dass Adaption an die Umgebung eine Vorform des Lernens sei (Müller 1996a, 34).

      Piagets Theorie der Entwicklung des Wissens ist nicht primär eine Theorie der Wahrnehmung wie etliche spätere konstruktivistische Ansätze, sondern vielmehr eine Theorie des Handelns. Den Begriff der Handlung übernahm Piaget vom Pragmatismus: „Erkenntnis wird also nicht mehr rein mental modelliert, sondern pragmatisiert“ (Ebd., 35). Lernen erfolgt in seinen Augen durch aktives Handeln, und zwar maßgeblich durch das dynamische Wechselspiel von Assimilation (Deutung und Integration neuer Elemente/Handlungsschemata1 an bereits aufgebaute Strukturen) und Akkommodation (Restrukturierung von Wissen bzw. Revision eines vorhandenen Handlungsschemas im Sinne der situativen Anpassung an die Umwelt). Laut Ernst von Glasersfeld (1994) nimmt „der kognitive Organismus (...) nur das wahr (assimiliert), was er in die jeweils bereits bestehenden Strukturen einpassen kann“ (Ebd., 29). Erkennen ist demnach immer das Ergebnis von Assimilation. Gelingt auf Grund von neuen äußeren Bedingungen die Assimilation jedoch nicht, dann entsteht eine so genannte Störung im Handlungsschema und somit ein Anlass für eine aktive Verhaltensmodifikation, also ein Handlungsbedarf im Sinne des Lernens und des kognitiven Fortschritts. Als häufigste Ursache für Akkommodationen nennt Piaget Erfahrungen durch soziale und sprachliche Interaktionen (von Ameln 2004, 35). Kognitive Veränderung und Erkenntnis beruhen somit auf dem von Piaget als Äquilibration bezeichneten Mechanismus zur Aufrechterhaltung des kognitiven Gleichgewichts. Die Strukturen, die uns dabei helfen, unsere (subjektive) Wirklichkeit zu strukturieren, sind nach Piaget jedoch weder angeboren noch aus der Realität übernommen, „sondern eine eigene Konstruktionsleistung des Individuums, die nur auf dem biologischen Mechanismus der Selbstregulation basiert“ (Ebd., 36). Durch die Beschäftigung mit dem Thema „Gleichgewicht“ wandte sich Piaget später auch der Kybernetik zu. Er verweist beispielsweise auf Heinz von Foersters “order from noise“-Prinzip. Zudem sind gewisse Parallelen zu Maturanas Arbeiten erkennbar, wobei Piaget den kognitiven Apparat nicht – wie Maturana – als operational geschlossenes System betrachten würde (Ebd., 37).

      Piagets biologisch begründete und entwicklungspsychologisch erweiterte Erkenntnistheorie trägt nicht nur deutliche konstruktivistische Züge, auch wenn Piaget einen eher gemäßigten Konstruktivismus vertritt, sondern hatte auch ein neues Menschenbild und somit eine neue Sicht des Kindes zur Folge: Das Kind wird bei Piaget als aktives Wesen betrachtet, das sich in der Auseinandersetzung mit der Welt entwickelt, diese strukturiert „und dabei sie und sich selbst verändert“ (Fatke 1981, 24). Es gilt als kompetentes Wesen, „das zunehmend über Fähigkeiten zur Weltaneignung verfügt“ (Ebd.) und im Vergleich zu den Erwachsenen „nicht als mangelhaft, sondern als qualitativ andersartig angesehen werden muß“ (Ebd.). Das Kind ist ein Interaktionspartner, der nicht allein nach den Vorstellungen der Erwachsenen geformt wird, „sondern seinerseits auch auf den Erwachsenen einwirkt und somit die Prozesse der Sozialisation und Erziehung aktiv mitgestaltet“ (Ebd.).

      Trotz aller Verdienste ist Piaget immer wieder wegen seiner einseitigen Fixierung auf Misserfolg („Störung“) als Anlass für Lernprozesse und Erkenntnisfortschritte kritisiert worden. Ein weiterer Vorwurf gilt dem Aspekt, dass die Funktion des sozialen Lernens von ihm unterschätzt und beispielsweise auch erwachsenen Interaktionspartnerinnen bzw. -partnern nicht explizit eine fördernde Rolle zugeschrieben wird, wie das etwa bei seinem zeitweiligen Zeitgenossen Lev Vygotskij der Fall ist. Stattdessen ist das Kind in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt weitgehend auf sich selbst angewiesen. Scharlau (2007) resümiert, dass „Piagets Wissenschaftler ein einsamer Robinson Crusoe auf einer Insel [ist], der sich diese durch distanziertes Kartographieren und Organisieren erschließt“ (Ebd., 148). An anderer Stelle wird die Aussage allerdings wieder relativiert, da Piaget offensichtlich immer wieder betont hat, „dass soziale Einflüsse wichtig sind“ (Ebd., 147).2

      Piagets Arbeit – insbesondere seine Stufentheorie – gilt heute als stellenweise überholt, wobei er angeblich auch oft missverstanden wurde, so dass in den vergangenen Jahren einige seiner Konzepte neu interpretiert oder auch modifiziert worden sind.3 Dennoch