Spanische Literaturwissenschaft. Maximilian Gröne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maximilian Gröne
Издательство: Bookwire
Серия: bachelor-wissen
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300113
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In der Tat erscheint das Werk formal unseren Lesegewohnheiten gegenüber zwar als abweichend, ist jedoch in sich geschlossen. Nur der Sinn offenbart sich uns nicht spontan; jeder von uns könnte aus dem Text etwas anderes herauslesen. Wolfgang Iser spricht in diesem Zusammenhang LeerstelleLeerstellen/Unbestimmtheit von den ‚LeerstellenLeerstellen‘ bzw. der ‚Unbestimmtheit‘ eines Textes. Ein weiteres Kriterium für die Literarizität eines Textes wäre also sein Gehalt an LeerstellenLeerstellen (siehe Einheit 11.2.2) bzw. sein Grad an InterpretierbarkeitInterpretation. Dieses Kriterium gilt laut Iser vor allem für moderne Literatur, doch auch Cervantes’ Don Quijote lässt sich unterschiedlich lesen, nämlich z.B. als Geschichte über die Abenteuer des Don Quijote, als Parodie auf den RitterromanRoman (vgl. Einheit 8.1) oder als Reflexion über die Literatur und das Lesen im Allgemeinen, d.h. als autoreferenziellerAutor RomanRoman. Im Text sind alle drei Möglichkeiten und darüber hinaus auch noch viele andere angelegt. Es handelt sich hierbei also um OffenheitOffenheit (apertura) einen sehr offenen, ‚unbestimmten‘ Text (texto abierto).

      Unsere Beispiele haben gezeigt, dass ‚Literatur‘ eine Kategorie mit recht ‚Literatur‘: Kategorie mit klarem Zentrum und unscharfen Rändern unscharfen Grenzen ist. Die provisorischen Charakteristika, die wir anhand der Textbeispiele vorgeschlagen haben, liefern keine absoluten Kriterien in dem Sinne, dass die Zugehörigkeit eines Textes zum Bereich des Literarischen überzeitlich und unabhängig von den verschiedenen Gesellschaften, die ihn gelesen haben oder lesen werden, feststünde: Was ‚poetischepoetisch‘ Sprache ist, hängt von einer schwer zu bestimmenden, zudem historisch, sozial und sogar individuell variierenden ‚Normalsprache‘ ab. FiktionalitätFiktionalität und ReferenzialitätReferenzialität sind, wie wir sahen, keine unveränderlichen Eigenschaften, und selbst wenn sie es wären, schiene es höchst problematisch, FiktionalitätFiktionalität zur Voraussetzung für Literarizität zu machen. Wie gehen wir beispielsweise mit einer AutobiographieAutobiographie wie Las confesiones de un pequeño filósofo von Azorín oder den zahlreichen cuadros de costumbres der Romantik um, also Texten, die in häufig didaktischer Absicht die Sitten des einfachen Volkes auf dem Lande oder in der Stadt darstellen und damit referenziellreferenziell sind? Heute sind sie in allen Literaturgeschichten verzeichnet. Dieser Umstand weist einmal mehr darauf hin, dass die Beurteilung von Texten und ihrer Wichtigkeit sehr davon abhängt, was bestimmte Leser mit diesen bezwecken, warum und wie sie sie lesen – ein Kontextfaktor außerhalb des Textes selbst, wie wir im Zusammenhang mit Text-Beispiel 1.2 bereits sahen. So klar die Kategorie ‚Literatur‘ im Alltagsgebrauch auch sein mag und so sehr die erwähnten Charakteristika auch auf viele ‚große‘ Werke (die ‚Klassiker‘) zutreffen mögen, so durchlässig zeigt sie sich an den Rändern (d.h. an untypischen Texten). Dies gilt umso mehr ab der Moderne (ungefähr ab der Mitte des 19. Jh.), mit der weniger ein klares Regelsystem im Sinne von Gattungspoetiken (siehe Einheit 2.2) als der Anspruch permanenter Neuerung zum Kennzeichen von Literatur wird und damit notwendigerweise auch die Grenzen des Literarischen immer wieder verschoben werden.

      Aufgabe 1.4 ? Suchen Sie weitere – imaginäre oder Ihnen bekannte reale – Beispieltexte, die gegen die Kriterien der PoetizitätPoetizität und der FiktionalitätFiktionalität zur Bestimmung von Literatur sprechen.

      1.2 Literatur medial

      Intensiver vs. extensiver LiteraturbegriffLiteraturbegriff Bisher haben wir versucht, Literatur anhand bestimmter Eigenschaften von anderen, nicht-literarischen Schriftstücken abzugrenzen. Wir haben damit einen sog. intensiven LiteraturbegriffLiteraturbegriff vertreten. Manche Schwierigkeit lässt Extensiv verstanden: Literatur ist geschriebene Sprache sich umgehen, wenn man dagegen einen extensiven, also ausgedehnten LiteraturbegriffLiteraturbegriff zugrunde legt, zu unserer Eingangsdefinition zurückkehrt und Literatur gemäß der Ursprungsbedeutung des Wortes als geschriebene Sprache versteht. Diese Definition umfasst ein ungleich größeres Textvolumen und freilich eine Unmenge von Schriftstücken, die gemeinhin kaum ‚Literatur‘ genannt würden (dabei, wie wir sahen, jedoch als Ready-madeReady-made relativ leicht Literatur werden könnten), lenkt zugleich aber die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, der bisher nicht erwähnt wurde und auch sonst häufig stillschweigend oder gar nicht beachtet wird: die Medialität von Literatur.

      MediumMedium Hier ist gleich ein klärendes Wort zum Begriff ‚MediumMedium‘ angebracht. Er wird in zweierlei Bedeutung gebraucht. Wir bezeichnen (1) Datenträger wie Zelluloidfilme, DVDs oder serverbasierte Videostreams als „MediumMedium“. Einen Spielfilm kann ich, die entsprechenden technischen Apparaturen vorausgesetzt, mit Hilfe aller genannten Datenträger rezipieren, ohne dass sich der Inhalt (das, was ich sehen und hören kann) deswegen ändert. Allerdings kann der Datenträger indirekt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Inhalt ausüben: so wurden durch die Publikation von Literatur in MassenmedienMedien wie den auflagenstarken Tageszeitungen des 19. Jh. neue Leserschichten mit ihren spezifischen Erwartungen erreicht und die Produktion durch die Schriftsteller beschleunigt und auf kommerziellen Erfolg des Herausgebers ausgerichtet. Der RomanRoman am Ende des 19. Jh. ist ohne die Massendistribution in Tageszeitungen nicht denkbar, ebensowenig wie Videoblogs ohne freie Internetportale wie Youtube. – Wir bezeichnen (2) Zeichensysteme als MedienMedien. Das MediumMedium des Films beispielsweise sind bewegte Bilder und Töne, das von Literatur geschriebene Sprache. Im Unterschied zur Bedeutung 1 ist hier der Inhalt nicht ohne Weiteres vom MediumMedium abkoppelbar: Während es möglich ist, einen RomanRoman ohne Informationsverlust als e-Book oder PDF auf dem Bildschirm zu lesen (Datenträgerwechsel), kann man ihn nicht eins zu eins ins MediumMedium (Zeichensystem) des Films überführen (es sei denn, man würde das QuellmediumMedium selbst übernehmen, indem man alle Seiten des Buchs abfilmte). LiteraturverfilmungLiteraturverfilmung geht zugleich mit Informationsverlust und -zugewinn einher, ist InterpretationInterpretation, und zwei Verfilmungen ein und desselben literarischen Textes werden stets deutlich voneinander abweichen.

      Aufgabe 1.5 ? Versuchen Sie vor dem Weiterlesen, einige medienspezifischeMedien Grundeigenschaften von Literatur zu nennen. Der Vergleich mit anderen MedienMedien (Zeichensystemen) wird Ihnen bei der Suche helfen, ebenso Ihre evtl. bereits erworbenen Grundkenntnisse der Linguistik.

      Medialität jeder Wahrnehmung Auch wenn es uns bei der Lektüre eines fesselnd geschriebenen Romans oder bei der Betrachtung eines detailrealistischen Films so vorkommen mag, als ob wir dem Dargestellten unmittelbar begegnen, mitunter gleichsam darin ‚eintauchen‘ könnten – worin nach wie vor einer der Hauptreize der Rezeption gerade von Literatur und Film liegt –, so bleibt es ein unhintergehbares Faktum, dass zwischen uns und diesen Inhalten ein MediumMedium steht und stehen muss: ‚Unmittelbar‘ dringt nichts in unsere Psyche ein (lassen wir religiöse oder parapsychologische Erlebnisse einmal beiseite), und das dazwischen liegende MediumMedium ist nie völlig transparent.

      Linearität, Abstraktheit und Arbitrarität des sprachlichen Zeichens (Ferdinand de Saussure) Für die Literatur als ‚Wortkunst‘ liegt das mediale Apriori, die vor jeder Poetik liegenden Ausdrucksbedingungen, zunächst einmal in der Bindung an Sprache. Die Eigenschaften dieses Zeichensystems bestimmen die Eigenschaften von Literatur mit. Der Begründer der strukturalistischen Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussure (1857–1913), hat als zentrale Merkmale sprachlicher Zeichen ihre Linearität, ihre Abstraktheit und ihre Arbitrarität SignifikantSignifikant/Signifikat und SignifikatSignifikant/Signifikat herausgestellt. Linear ist Sprache, weil ihre Ausdrucksseite (der SignifikantSignifikant/Signifikat, span. significante, m., also Laute oder Buchstaben) aus aufeinanderfolgenden, nicht gleichzeitig übermittelten Zeichen und Zeichenelementen besteht – ich vernehme einen Satz normalerweise eindimensional Laut für Laut, selbst wenn ich u.U. den durch ihn übermittelten Inhalt (die Bedeutung, das SignifikatSignifikant/Signifikat, span. significado, m.) oder auch die grammatische Struktur des Satzes sowie seine Einbettung in einen situativen Kommunikationskontext kognitiv nicht linear, sondern ganzheitlich erfasse. Literatur ist demnach eine Kunstform, die in der Linearität des Nacheinanders eine Bedeutung entwickelt, im Gegensatz etwa zum Film, der zwar auch linear abläuft, aber stets gleichzeitig einen mehrdimensionalen Bildraum eröffnet und diesen mit einer großen Bandbreite von Geräuschen, Musik oder Stimmen ausgestalten kann. Abstrakt ist ein sprachliches