Der hermeneutische ZirkelHermeneutischer Zirkel als Kreismodell
Unhintergehbare Subjektivität Die Kehrseite des hermeneutischen ZirkelsHermeneutischer Zirkel und der Wiederaneignung von Texten durch die Leser ist der Umstand, dass es damit keinen ein für allemal geschlossenen Textsinn gibt, an den man sich annähern könnte, sondern die Subjektivität des jeweiligen Betrachters unhintergehbarer Bestandteil des literaturwissenschaftlichen Objekts ist. Anders formuliert: In den auf Verstehen gründenden GeisteswissenschaftenGeisteswissenschaften ist der Untersuchende immer Teil dessen, was er untersucht – es ist beispielsweise schlichtweg nicht möglich, restlos den ‚Sinn‘ zu ermitteln, den ein Text zum Zeitpunkt seiner Entstehung gehabt hat, da die damaligen subjektiven Verstehensbedingungen (wessen überhaupt?) nicht vollständig ermittelbar sind und wir jeden Text notwendigerweise vom Standpunkt eines heutigen Betrachters aus wahrnehmen. HermeneutischeHermeneutik Differenz Zwischen früheren RezeptionenRezeption und heutigen sowie zwischen diesen und künftigen Lesarten liegt eine hermeneutischeHermeneutik Differenz, die interpretatorisch annähernd beschrieben (siehe Einheit 11.2.2), aber nicht aufgelöst werden kann.
Ansatzpunkte der Objektivierungobjektiv Der Natur literarischer KommunikationKommunikation Rechnung zu tragen heißt indes nicht, der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen und das Ziel einer überindividuellen Verständigung über Literatur ins Reich der Utopie zu verbannen. Wenngleich es absolute ObjektivitätObjektivität nicht geben kann, so stehen uns doch an beiden Polen des hermeneutischen ZirkelsHermeneutischer Zirkel Ansatzpunkte für eine Objektivierungobjektiv zur Verfügung:
1 Der Text ist, sobald durch kritische Edition eine gesicherte Textgrundlage erarbeitet wurde, objektivobjektiv gegeben.
2 Der hermeneutischeHermeneutik Hintergrund, vor dem ein Text verstanden wird, kann seinerseits annähernd transparent gemacht und entsubjektiviert und der Weg (gr. methodos, also die MethodeMethode) zur jeweiligen Ermittlung des Textsinns systematisiert und begründet werden.
StrukturanalyseStrukturanalyse Eine auf den erstgenannten Ansatzpunkt bezogene Herangehensweise an literarische Texte ist die StrukturanalyseStrukturanalyse (análisis estructural, m.). ‚StrukturStruktur‘ (estructura) bedeutet allgemein die Gesamtheit aller Teile eines Ganzen und ihre Beziehung untereinander (siehe Einheit 12.1.1). Der Begriff ‚Analyse‘ geht in dieselbe Richtung: Er bezeichnet in der Philosophie die logische Auflösung, Zerlegung eines Begriffes in seine Merkmale, eines Bewusstseinsinhalts in seine Elemente; in den Naturwissenschaften wie der Chemie etwa die Bestimmung der Einzelbestandteile eines StoffsStoff. Im Gegensatz zu letzterer kann eine literaturwissenschaftliche StrukturanalyseStrukturanalyse nicht bei den ermittelten Bestandteilen stehen bleiben, sondern besteht, um mit der StrukturStruktur die Beziehung der Teile zueinander deutlich zu machen, aus einer Zerlegung und Wieder-Zusammenfügung, was im Übrigen dem hermeneutischenHermeneutik Wechselspiel von Teil und Ganzem entspricht. Ziel einer StrukturanalyseStrukturanalyse ist es, ein Modell Abstraktes Modell textinterner Funktionen herauszuarbeiten, das zeigt, wie der Text ‚funktioniert‘, wie er unterteilt ist, mit welchen sprachlichen und formalen Mitteln er Bedeutung erzeugt. Der Versuch, StrukturenStruktur eines Textes aufzudecken, ist nicht frei von Subjektivität, da es beispielsweise von der Fragestellung und dem Interesse des Betrachters abhängt, was als ‚relevanter‘ Bestandteil im Hinblick auf die Gesamtbedeutung gelten kann und welche StrukturenStruktur man überhaupt erkennt; man erreicht aber größtmögliche ObjektivitätObjektivität, wenn zwei Prinzipien befolgt werden:
StrukturanalyseStrukturanalyse (Schritt 1 und 2)
1 Prinzipien der StrukturanalyseStrukturanalyse Die Analyse von TextstrukturenStruktur sollte textimmanenttextimmanent bleiben, d.h. von allem Außertextuellen wie Autor, Realitätsbezug usw., sofern nicht innerhalb des Textes explizit darauf verwiesen wird, absehen. Hinsichtlich der Inhaltsebene beschränkt sie sich auf nachweisbare (etwa in Wörterbüchern verzeichnete) Wortbedeutungen und Konnotationen (Nebenbedeutungen).
2 Eine StrukturanalyseStrukturanalyse sollte interpretatorischeInterpretation Offenheit bewahren, also ein notwendiges anfängliches Leseverständnis nicht als zu erreichenden Zielpunkt setzen, sondern anhand der Sinn- und FormstrukturenStruktur des Textes kritisch hinterfragen und auch eine mögliche Widersprüchlichkeit oder Mehrdeutigkeit des Textes in Rechnung stellen.
Analyse als erster Schritt zur InterpretationInterpretation Eine solche Ermittlung der TextstrukturenStruktur ist Grundgerüst und Vorbereitung einer InterpretationInterpretation (interpretación). Dieses Objektivierungsverfahrenobjektiv bezieht sich vor allem auf den zweiten der oben genannten Ansatzpunkte der Objektivierungobjektiv: die Offenlegung des ‚hermeneutischenHermeneutik Hintergrunds‘ sowie der spezifischen MethodeMethode. Dahinter steckt der Gedanke, dass ich mein Textverständnis objektivierenobjektiv und damit wissenschaftlich validieren (gültig machen) kann, wenn ich (a) eine nicht von meinem subjektiven Weltverständnis abhängende Grundlage angebe, also z.B. mein Textverständnis in der nachweisbaren Biographie des AutorsAutor (produktionsästhetischProduktionsästhetik) oder der Erwartungshaltung