In der zweiten Hälfte des 19. Jh. bildete sich somit im Zeichen des PositivismusPositivismus (siehe Einheit 10.2) eine ‚moderne‘ wissenschaftliche Beschäftigung mit der literarischen Überlieferung aus, deren Quellen nach überprüfbaren Daten und Kriterien systematisch erfasst, analysiert und zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Diese einseitig auf die Überlieferungsgeschichte ausgerichtete TextphilologieTextphilologie TextphilologieTextphilologie wurde schließlich aus einer anderen, immer noch dem PositivismusPositivismus unterstellten Perspektive erweitert, welche in den historischen Entstehungsbedingungen eines Textes den zentralen Angelpunkt für ihre InterpretationInterpretation erblickte. Im Zuge eines geschärften Geschichtsbewusstseins sollte die historische Entwicklung der einzelnen Nationalliteraturen aufgearbeitet werden, was nicht zuletzt zur Erstellung von Werk- und Autorenkatalogen führte. Eine wichtige Frage, die bis in die Mitte des 20. Jh. verfolgt wurde, beschäftigte sich zudem mit dem vom jeweiligen ‚Volkscharakter‘ geprägten ‚Wesen‘ der Nationalliteratur. Sie war auch ein zentrales Anliegen der frühen Philologie in Spanien um Marcelino Menéndez Pelayo (siehe Einheit 10.3).
Die Kontextualisierung der literarischen Werke konnte später unter wechselnden Leitideen erweitert werden, so unter der Berücksichtigung von Thesen der Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Volkskunde, der philosophischen Ästhetik, der Sprachwissenschaft, der MedienwissenschaftenMedien u.v.m.
Heute hat die LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte unter dem Einfluss von poststrukturalistischer und dekonstruktivistischerDekonstruktion Literaturtheorie (siehe Einheit 12.2) einen Punkt erreicht, an dem viele der für Poetik und LiteraturgeschichtsschreibungLiteraturgeschichte grundlegenden Kategorien wie Autorschaft, Gattungen, EpochenEpochen, Kanon oder Wirkungsästhetik in ihrer Aussagekraft angezweifelt werden. Nichtsdestotrotz liefern LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte nach wie vor unerlässliche Leitfäden für die Annäherung an übergreifende Entwicklungsprozesse und an einzelne Schlüsseltexte, wie immer sich deren Auswahl im Einzelfall auch legitimieren mag. (Eine Auswahl an Geschichten der spanischen Literatur finden Sie in Einheit 3.4)
Literatur als Kommunikationsnetz
2.5 KanonKanon
! Ein KanonKanon verzeichnet überlieferungswürdige Werke Eine wichtige Funktion, die ergänzend zu den bereits genannten von Poetiken und LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte gleichermaßen übernommen wird, ist ihr Beitrag zur Bildung eines KanonsKanon (span. canon). Unter KanonKanon versteht man dabei eine Zusammenstellung der wichtigen Werke für einen bestimmten Bereich, z.B. die ‚schöne‘ Literatur, durch kompetente Meinungsträger. Als Vorbild dienen die ‚kanonischen‘ TexteKanon des Alten und des Neuen Testamentes, d.h. jene Texte, die im Gegensatz zu den sog. apokryphen Schriften in die Bibel aufgenommen wurden.
Die KanonbildungKanon hängt direkt vom Literaturverständnis einer ausschlaggebenden Trägergruppe ab, die ein Urteil über Wert und Unwert literarischer Texte fällt und unter ihnen diejenigen herausgreift, welche in Hinblick auf Form und Gehalt als mustergültig, als literaturgeschichtlicheLiteraturgeschichte Meilensteine und von zeitloser Bedeutung gelten. Die dadurch zustande kommende Auswahl vereint daher die im weiteren Sinne gerne als ‚Klassiker‘ einer EpocheEpochen bezeichneten Texte.
Aufgabe 2.11 ? Nennen Sie unter Einbezug der bisherigen Ausführungen die möglichen Meinungsträger, d.h. Gruppen oder Institutionen, welche maßgeblich an der Bildung eines KanonsKanon beteiligt sein können!
Zu bedenken ist auch in diesem Zusammenhang wieder die Zeitgebundenheit der KanonesKanon (Plural von ‚KanonKanon‘) und die gleichzeitige Existenz mehrerer rivalisierender KanonesKanon.
Thalia, die Muse der KomödieKomödie
Im Zuge des kulturgeschichtlichen Wandels, der sich auch in der Veränderung der an der KanonbildungKanon beteiligten Gruppen spiegelt, werden Texte letztendlich daran gemessen, ob sie eine wie auch immer geartete Aussagekraft – und sei es nur im Sinne der literaturgeschichtlichenLiteraturgeschichte Tradition – besitzen. KanonbildungKanon ist demnach ein besonders eingängiges Phänomen der literarischen RezeptionRezeption, wobei mit der Auswahl bevorzugter Texte gleichzeitig DeutungskanonDeutungskanon ihre Auslegung in weiten Teilen festgelegt wird (‚DeutungskanonDeutungskanon‘).
Als Kehrseite der KanonisierungKanon ausgewählter literarischer Werke ist die Ausgrenzung anderer Werke zu betrachten, zumal wenn diese die repressiven Züge der ZensurZensur trägt. In Spanien (und nicht nur hier!) ist ein gewaltsames Vorgehen gegen unliebsame Literatur zunächst vorrangig mit dem Wirken der sog. Heiligen Inquisition verbunden (in Spanien: 1478–1834). Diese konnte auf Veranlassung der Kirche bzw. ihrer verantwortlichen Organe die weltliche Index der verbotenen Bücher Herrschaft zum Eingreifen gegen glaubensgefährdende Schriften veranlassen, die auf den 1966 in seiner verbindlichen Form abgeschafften Index librorum prohibitorum gesetzt wurden. Im Zeichen der politischen IdeologieIdeologie steht eine weitere bedeutsame Phase der Einschränkung der Publikationsmöglichkeiten, nämlich die vom franquistischen Regime (1936–77) ausgeübte censura.
Titelblatt des Index librorum prohibitorum von 1711
Aufgabe 2.12 ? Welche äußeren Faktoren könnten im 20. Jh. auf deutscher Seite die KanonbildungKanon zur spanischen Literatur beeinflusst haben? In welcher Form kommen Studierende der Literaturwissenschaft heute mit KanonesKanon der spanischen Literatur in Berührung? Wer beschäftigt sich in der Gegenwart beschreibend und wertend mit der Literatur?
Zusammenfassung Die Bestimmungen, was Literatur ist, nach welchen Gesetzmäßigkeiten sie funktioniert oder zu funktionieren habe, welche Kriterien über ihren Wert entscheiden und in welche traditionsbildenden Zusammenhänge sie einzuordnen ist, hat seit jeher die kritische Auseinandersetzung mit ihr geprägt und wurde zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter den sich wandelnden sozio-kulturellen Rahmenbedingungen unterschiedlich beantwortet. Nur die Kenntnis der historischen Stufen dieses Meinungsbildungsprozesses erlaubt es, die einzelnen literarischen Texte auch angemessen hinsichtlich ihrer Einordnung in gattungs- und epochenspezifische Kontexte zu beurteilen und die schwierige Frage nach ihrem ästhetischen Wert, ihren formalen wie inhaltlichen Besonderheiten und ihre Bedeutung für das zeitgenössische Publikum oder spätere Generationen zu beantworten.
Literatur
Aristoteles: Poetik. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 21994.
Johann Wolfgang v. Goethe: West-östlicher Diwan, in: Werke. II. Hg. Erich Trunz. München: C.H. Beck 111978, 7–270.
Ignacio de Luzán: La poética o reglas de la poesia en general y de sus principales especies (ed. de 1737 y 1789). Madrid: Cátedra 1974.
Ángel de Saavedra (Duque de Rivas): El moro expósito. Córdoba y Burgos en el Siglo décimo. I. Madrid: Espasa-Calpe 1982.
Lope de Vega: Arte nuevo de hacer comedias. Madrid: Cátedra 2006.
[bad img format] Weiterführende Literaturhinweise finden Sie unter www.bachelor-wissen.de.
3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten
Inhalt