In die Gegenwart übertragen können wir Duchamps oder Warhols avantgardistische Gesten also als Reaktion auf einen Stildruck einer post-fordistischen Ökonomie interpretieren: Die Künstler spekulieren auf die Zukunft (der Kunst) und minimieren die Risiken ihrer Nicht-Akzeptanz oder Wegrationalisierung durch industrielle Fertigungstechniken, indem sie prozessuale statt generische Techniken und Stile erfinden.
Man hat diese Wendung Konzeptkunst genannt, wovon ja auch mit Blick auf Choreographien die Rede ist. Damit hat man allerdings den Eindruck erweckt, als seien die Aspekte Technik und Stil obsolet geworden, weil es nur mehr um die Idee und den Einfall ginge. Mit Becks Überlegung führen wir den Technikbegriff in die Kunstreflexion wieder ein und behaupten allerdings, dass die Zielstellung von Technik sich radikal ändert. Vereinfacht gesagt ist das Ziel nun in der Zeit (zukünftige Katastrophen) angeordnet und nicht länger im Raum (Werk) zu sehen.
Es ist klar, dass künstlerische Techniken vor dem Hintergrund der Zweiten Moderne nicht mehr allein auf jene ungebrochene Tradition von Handwerk, Körpertechnik und Kunst bezogen werden können, wie es die Etymologie von techne und artes nahe legen und wie sie auch in Wollheims Überlegungen Verwendung finden. Wollheim geht noch davon aus, dass es zwei Ausprägungen von Techniken in den Künsten gibt: eine notwendige Technik, um bestimmte Verfahren zu erlernen und zu trainieren. Hierzu zählen etwa Etüden, Skizzen, interne Vorspiele – also alle propädeutischen Schritte, die der Konzeption und Produktion eines Kunstwerkes vorangehen, selbst aber darin nicht unmittelbar sichtbar werden. Davon verschieden, wiewohl eng damit verknüpft sind jene Techniken, die nicht von der Erscheinung des Werkes getrennt werden können. Eine Tanztechnik oder eine Sprechtechnik wären etwa prägnante Beispiele für diesen Typus von Technik. Technik als Prozess (der Zweiten Moderne) allerdings ist Wollheims Reflexion nicht inhärent.
Die Limitierung von Wollheims Definition von künstlerischen Techniken, die sicherlich viele im Kunstdiskurs teilen, ist dann auch schnell ersichtlich: Bereits Alltagsbewegungen im Tanztheater, elektronische Klänge und industrielle Geräusche in der Musik weisen ja eine Ähnlichkeit mit der außer-künstlerischen Produktion auf. Gesangs-, Bewegungs- und Sprechtraining, Etüden und Skizze gehören zu Kreativtechniken, die auch außerhalb des Feldes der Kunst Anwendung finden. Allenthalben können wir also kaum noch spezifische und exklusive Techniken der Künste ausmachen, die von Herstellungsprozessen in außer-künstlerischen Bereichen kategorial unterschieden und damit jenseits des Risikokalküls anzusiedeln wären. Das betrifft auch die mit der Person verschmolzenen Techniken in den darstellenden Künsten. Um nur ein prominentes Beispiel zu nennen:
Die Schauspielerin mit Down-Syndrom Julia Häusermann vom Züricher Theater Hora, die 2013 den höchst dotierten Alfred-Kerr-Darstellerpreis auf dem Berliner Theatertreffen verliehen bekam, tanzt in dem von Jérôme Bel arrangierten und choreographierten Abend Disabled Theatre. Was sie allerdings zeigt, kann schwerlich auf eine etablierte Tanztechnik zurückgeführt werden, noch ist es individuelle Technik, der Häusermann-Tanz. Es sei, wie der Juror Thomas Thieme sagt, bar jeder Kategorien berührend.
Existenz im Augenblick. Schwermut und Übermut zugleich. Und diese Verlorenheit. Keine Chance, ihr auf irgendeine Technik, eine gesetzte Pointe zu kommen. Kein virtuoses Auftrumpfen und vor allem kein Buhlen um die Aufmerksamkeit und Liebe des Publikums. […] Und meine Kriterien – ich hatte ja ein paar – gingen den Bach runter.5
Hat also Häusermann ihre eigene Technik? Oder ist der Tanz zu Michael Jacksons They don’t care about us ein individueller Ausdruck, gefärbt mit dem für ihre Lebenssituation typischen und medial vermittelten Tanztechniken? Das Sich-ans-Genital-Fassen und der angedeutete »Moonwalk« Jacksons als Gemeingut? Weder noch. Man kann hier keine klare Grenze zwischen professioneller Tanztechnik und dem, was Uwe Wirth das »dilettantische Dispositiv«6 nennt, ziehen. Man kann also bei Häusermann nicht mehr sagen, es tanze hier jemand mit Trisomie 21 und man kann nicht die Analogie zu den Kindern aufmachen, die in der Graham-Technik stillos erscheinen müssen, weil sie – ähnlich der Lessingschen »mechanischen Nachäffung«7 – Darstellungstechniken lediglich kopierten, ohne sie recht zu verstehen und zu empfinden.
Das aber heißt, dass die Frage der Technik nicht mehr allein an Häusermanns Tanz, als dem sichtbaren Werk und seiner Herstellungsweise, festgemacht werden kann. Vielmehr prägt dieses Bühnenwerk eine verteilte und auf Zukunft umgestellte, also spekulative Autorschaft. Häusermann ist ohne Bels starke Autorisierung, ohne den Diskurs um professionelles Schauspielen, für das der Juror Thieme und der Rahmen des Berliner Theatertreffens stehen, und ohne eine intensive mediale Debatte um die Anerkennung von Künstlern mit körperlicher oder geistiger Behinderung, auf die der doppeldeutige Titel Disabled Theatre, also das Theater von Behinderten und das behinderte Theater, anspielt, kaum denkbar. Wir müssen uns also die Technik als einen zentralen Baustein des tradierten Stilverständnisses nicht als objektive oder subjektive Eigenschaft vorstellen, sondern eher als eine Handlungskette im Sinne Bruno Latours, mit der allmählich so etwas wie die Verfestigung eines Stils oder einer Tanztechnik hergestellt wird.
Es ist wenig hilfreich, bei dieser Form des Produktionsprozesses nach jenem langen Training körperlicher Fertigkeiten und davon ausgehend der virtuosen Beherrschung körperlich und geistig schwieriger Aufgaben zu suchen, wie sie die Idee künstlerischer Techniken im Gegensatz zu anderen Techniken prägen und damit auch eine Säule des Stilbegriffs darstellen. Diese Säule bricht weg, weil sich die Produktionsbedingungen von Kunst geändert haben und weil die Produktionsprozesse nicht mehr auf klare Ziele hin ausgerichtet sind. Was bleibt, ist die Idee von Kunst, hochapostrophiert zur Haltung, zum Eigennamen und zur Duchamp’schen Autorisierungsparadoxie. »Kann man Werke machen, die keine ›Kunst‹ sind?«8, fragte sich Duchamp, der Künstler. Seine Versuche scheiterten, als das Publikum dahinterkam, wer sich hinter R. Mutt verbarg. Wir können diese Paradoxie übertragen auf unsere Frage nach der Stilbestimmung: »Kann man Werke machen, die keinen ›Stil‹ haben?« Die Antwort ist: Im Feld der Kunst, nein. Denn früher oder später greift über Anschlusskommunikation das Stilpostulat und trachtet eine Entscheidung herbeizuführen, ob der Fall weiter im oder außerhalb des Feldes der Kunst behandelt wird.
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