Das Rauschen unter der Choreographie. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Forum Modernes Theater
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301530
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Bohrer mehrere Essays gewidmet hat.2 Würde man einige der einschlägigen historischen Stildiskurse aufgreifen, mit denen Stil als ein menschliches Vermögen (Buffon), als die künstlerische Kompetenz, das Wesen der Dinge zu erkennen (Johann Wolfgang von Goethe),3 oder als das künstlerische Vermögen zur Visionierung ›anderer Welten‹ (Marcel Proust) aufgefasst werden, so ließe sich die ästhetische Arbeit einiger zeitgenössischen Choreograph*innen (etwa Laurent Chétouane oder Margrét Sara Guðjónsdóttir) als eine stilprägende Arbeit an einem Erkenntnisvermögen der Tanzkunst diskutieren, über sensitiv eingestimmte Körper ein ›weiteres Universum‹ wahrnehmen zu lassen. Eine solche Untersuchung wäre sicherlich lohnend.

      Stil, Technik und Risiko – eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze

      Wolf-Dieter Ernst

      Was ist Stil?

      Im Kunstdiskurs ist von Stil traditionell in Hinsicht auf zwei Aspekte die Rede: die fertige, erkennbare Form eines Werkes und seine Herstellungsweise, häufig auch als die Herstellungstechnik bezeichnet. Richard Wollheim etwa spricht von einem erkennbaren Stil dann, wenn ein Kunstwerk – ihm geht es primär um Malerei – eine Form hat, die als entzifferbar und expressiv erscheint.1 In Vincent van Goghs Gemälde Le champ de blé aux corbeaux (Raben über dem Weizenfeld) sehen wir beispielsweise ein Weizenfeld und das soll auch zum Ausdruck gebracht werden. Zweitens ist ein erkennbarer Stil davon abhängig, ob der Künstler über anerkannte Techniken und deren Beherrschung verfügt. Van Gogh verfügte bekanntlich über eine Maltechnik, die zwar als eigen, aber durchaus als anerkannt gilt. Er stand nie im Ruf ein Dilettant zu sein. Ein Kind hingegen, so Wollheim, dass in Graham-Technik tanze, kopiere nur diese professionelle Tanztechnik, da es der ›rohen Sexualität‹ dieser Technik kaum gerecht werden könne. Auf dieses Bild übertagen heißt das: ein Kind, das im Van-Gogh-Stil malt, teilt nicht dessen existenzielle Dramatik. Dieses Kind also folgt keinem Stil, auch wenn es über Technik verfügen mag.

      Wollheims Stilbegriff setzt voraus, dass ein Kunstwerk eine klare Form, eine eindeutige Autor- und Könnerschaft und eine tradierte Herstellungsweise aufweist. Diese Bedingungen sind durch avantgardistische Strategien der Kunstproduktion allerdings konterkariert und auch unterminiert worden. Ein bekanntes Beispiel mag dieses Problem und seine Relevanz für die Bestimmung des Stilbegriffs verdeutlichen: Marcel Duchamps Fountain.

      Generischer und persönlicher Stil nach Duchamp

      Das Ready-made Fountain, das Duchamp 1917 zur Ausstellung der Society of Independent Artists in New York einreichte, weist keinen klaren generischen Stil mehr auf, denn es handelt es sich um ein Serienprodukt industrieller Fertigung. Seine Gestaltungsprinzipien und Herstellungstechniken wurden außerhalb des Feldes der Kunst bestimmt und vorrangig wohl nach außerkünstlerischen Kriterien wie Haltbarkeit, Nützlichkeit, Marktakzeptanz etc. ausgerichtet. Der Künstler ist also nicht an der Herstellung des Objektes beteiligt, wohl aber an der Auswahl und seiner Ausstellung im Feld der Kunst. Denn, wie sich später herausstellt, veranlasst Duchamp, dass dieses Serienprodukt für eine Ausstellung eingereicht wird und erklärt es damit entsprechend seiner künstlerischen Strategie zur Kunst. An die Stelle eines generischen Stils tritt ein persönlicher Stil.

      Mit dieser Geste aber bringt Duchamp die Jury der »Gesellschaft der Unabhängigen Künstler«, die über die Hängung der Exponate entscheidet, in eine unmögliche Situation. Hatte die Gesellschaft noch im Geiste der Sezession sich dazu verpflichtet, alle Einsendungen in alphabetischer Reihe auszustellen, so muss sie nun darüber entscheiden, ob dieses Alltagsobjekt kunstwürdig ist, wiewohl es offensichtlich nicht vom Künstler hergestellt, wohl aber dezidiert signiert ist: Am oberen Rand ist mit schwarzer Farbe der Name »R. Mutt« aufgebracht. Das war nicht zu übersehen. R. Mutt allerdings war als Künstler nicht in Erscheinung getreten.

      Geht man davon aus, dass die Signatur eines Kunstwerkes lesbar sein sollte, so verlieh dieser Akt der Signatur dem Objekt eine wundersame räumliche Drehung um 90 Grad und führte natürlich eine gesittete Benutzung als Pissoir ad absurdum. Die Frage war nun: Reichen diese Eingriffe aus, das Objekt zum Kunstwerk zu machen und es damit auch den tradierten Kunstwerken und Kunststilen zur Seite zu stellen?

      Bekanntlich wurde das Objekt zunächst von der Kommission, der Duchamp zwar selbst angehörte, bei deren Entscheidung er aber nicht zugegen war, abgelehnt und verschwand hinter einem Vorhang. Es wurde niemals ausgestellt, so dass die Geste der Einreichung als künstlerische Äußerung von der Genese des Werkes und einer stark verzögerten Rezeptionsgeschichte zu differenzieren ist. Das Werk, die künstlerische Autorisierung und die Rezeption weisen dabei sehr unterschiedliche Valenzen auf.

      Was geschah mit dem Werk? Der in den Coup eingeweihte Mäzen Duchamps, Walter Arensberg, verlangte es nach der Ablehnung zu sehen und erstand es kurzerhand. Diese erste Version gilt freilich als verschollen (was für einen Massenartikel natürlich eine einigermaßen komische Anmerkung darstellt). Es wurde allerdings zuvor von Alfred Stieglitz fotografiert. Seinen Ausstellungscharakter bekam das Objekt zunächst wohl eher über diese Fotografie, positioniert in Bildmitte auf einem Sockel und in einer Perspektive, die der gebräuchlichen diagonalen Draufsicht auf ein Pissoir widerspricht. Hervorgehoben sind vielmehr die geschwungene, dem körperlichen Organ entgegenkommende Form des Beckens im oberen Bildteil sowie die dunklen Zu- und Abflusslöcher in der Bildmitte, denen vorne links die Signatur zur Seite steht. So inszeniert und von Stieglitz als »Fountain by R. Mutt«, also mit ›Brunnen‹, ›Wasserspiel‹, ›Quelle‹ oder ›Ursprung‹ betitelt, scheint das Objekt weniger eine Flüssigkeit aufzunehmen, als dass ihr etwas entspringt. Repliken des Fountain wurden 1951 und 1964 gefertigt, ein Modell dieses Ready-mades war bereits Teil des von Marcel Duchamp gefertigten Koffermuseums Boîte-en-Valise (1941)1.

      Wie verhält es sich mit der Autorschaft? Der Künstler Marcel Duchamp gibt sich erst sehr verzögert und indirekt als derjenige zu erkennen, der den Coup lancierte, eigentlich erst in der Zeit der verstärkten musealen und publizistischen Aufmerksamkeit, die seinem Œuvre in der Nachkriegszeit gewidmet wurde. Weder in der Zeitschrift The Blind Man (1917), in der der Fall Richard Mutt besprochen wurde und die von Beatrice Wood, Henri-Pierre Roché und Duchamp, der unter dem Pseudonym »Totor« fimierte, herausgegeben wurde, noch in dem von Guillaume Apollinaire geschriebenen Artikel Le Cas de Richard Mutt (1918) wird Duchamp oder das Fountain namentlich erwähnt. Hervorgehoben wird vielmehr die Geste des Ready-made an sich, betont wird die Wahl und die Idee der Umfunktionierung, also die neue Form einer Autorschaft und eines persönlichen Stils losgelöst vom Kunstprodukt.

      Wenn die Autorenstrategie und die Werkgenese quasi ihr Eigenleben führen, verwundert es wenig, dass die Rezeption von Fountain und die sich daran anknüpfenden Verweise erst allmählich ihre Wirkung entfalteten – in diesem Fall über Dekaden hinweg. Thomas Zaunschirms Anfang der 80er Jahre vorgelegte ikonografische Lesart jener Ready-mades, die er parallel zu Duchamps erstem Hauptwerk, Le Grande Verre (Das Große Glas, 1915 – definitiv unvollendet 1923) liest, legt nahe, in Fountain mehr als nur die Geste einer paradoxalen Autorisierung zu sehen. Dazu gäbe es zu viele Verweise auf andere Ready-mades und Werke Duchamps. Bereits 1918 werde ja, so Zaunschirm, von Duchamp mittelbar in der Zeitschrift The Blind Man enthüllt, dass hinter dem »R.«, dem Vornamen des unbekannten Künstlers, der Name »Richard« stecke. Mit Duchamps Interesse an Sprache und ihren Übersetzungen und Homonymen, so Zaunschirm, werde Richard somit lesbar als ›rich art‹ oder als ›richard‹, was französisch ›ein reicher Kauz‹ ist, welche/r ›Mutt‹, englisch für Trottel, lautsprachlich aber auch für französisch ›mat‹ (= matt, müde, ermüdet sein) steht, oder auch für ›matt gesetzt‹, französisch ›échec et mat‹, wenn man Duchamps Karriere als Schachspieler in die Waagschale wirft, auf die er immer wieder in seinem Werk verweist. Oder ist es ein Verweis auf ›mud‹ im Sinne von Dreck, Schlamm, wenn man der Analogie von ›art‹ und ›merde‹ folgt, die Duchamp in seinen Notizen von 1914 anstellt?2

      Die kunstphilosophische Rezeption dieses Falls durch Thierry de Duve3 hingegen interessiert sich nicht für die ikonografischen Bedeutungen und Verweise auf Duchamps Werk. In dieser Interpretation steht der Coup stellvertretend für die Tendenz der modernen Kunst, die Theorie