Obwohl Cécile Wajsbrot die Bedeutung des Raumes für ihr Schreiben deutlich betont hat50 und R. Böhm und M. Zimmermann das Erzählwerk Wajsbrots bereits 2010 als „literarische Suchbewegung“ bezeichnet haben, hat die Forschung die Romane und Erzählungen der Autorin bislang nicht systematisch unter diesem Aspekt in den Blick genommen. Die vorliegende Studie erfüllt folglich ein Desiderat, das umso dringender erscheint, da die Bedeutung von Raum und Bewegung für die Literatur insgesamt seit geraumer Zeit verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist.
1.4 Anmerkungen zur Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots in Frankreich und Deutschland
Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann haben bereits ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich bzgl. der Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots deutliche Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland abzeichnen.1 Da eine gründliche und belastbare Antwort empirische Studien, die im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten sind, voraussetzte, seien hier nur zwei Beobachtungen zitiert, die erkennen lassen, dass die Erinnerung an den Holocaust in Frankreich und Deutschland bis in die jüngere Vergangenheit sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrief.
Bereits 2001 vermutete Katja Schubert, dass ein Roman wie La Trahison aufgrund der „[…] direkte[n] Auseinandersetzung im Frankreich der 90er Jahre zwischen einer Jüdin und einem Nichtjuden […] von einem französischen Publikum auch als eine Provokation und als eine neuartige, jedoch weitgehende Hinterfragung der eigenen Geschichte gelesen werden [konnte]“2. Das besondere deutsche Interesse für jene Romane Cécile Wajsbrots hingegen, die sich mit einer historischen Thematik auseinandersetzen, mag sich aus einem Phänomen erklären, das sie selber sehr bewusst wahrgenommen hat. Im ersten Kapitel ihrer Essaysammlung Berliner Ensemble zeigt sich die zwischen Paris und Berlin pendelnde Autorin angesichts des Berliner Stadtbildes dermaßen beeindruckt „[…] par la présence du passé, des plaques commémoratives rapportant les événements les plus sombres et par la croyance – concrétisée par le nombre de grues et de chantiers – en un avenir“, dass sie sich fragt: „Où est le présent?“3 Und in einem Gespräch mit Hélène Cixous stellt sie in einem Rückblick auf ihre inzwischen dreizehn Berliner Jahre fest, dass es in dieser Zeit wohl keinen einzigen Tag gegeben habe, an dem die Zeitungen oder das Radio nicht auf den Nationalsozialismus oder die Judenvernichtung – l’extermination – hingewiesen hätten. Zumindest zu Beginn habe sie für diese Einstellung eine stärkere Affinität empfunden als für „[…] l’amnésie et la bonne conscience – ou faut-il dire l’inconscience mauvaise – françaises“4. Unstrittig ist, dass in Deutschland aufgrund der historischen Schuld des Landes die Sensibilität für Themen, die auf den Holocaust bezogen sind, stärker ausgeprägt ist als in Frankreich, das seine durch die Kollaboration herbeigeführte Verstrickung in den Holocaust bekanntlich lange verdrängt hat.
Im Hinblick auf L’Île aux musées, den zweiten Haute Mer-Roman, stellen R. Böhm und M. Zimmermann die Frage, ob die schwache Resonanz in Frankreich der „[…] allzu radikalen ‚Verstimmlichung‘ und ‚Entkörperung‘ der Protagonisten, die für manchen Leser blass und konturenlos bleiben“,5 geschuldet sei. Im Übrigen dürfe man „gespannt sein“, ob das Interesse für die Romane Cécile Wajsbrots auf französischer Seite wachse, sobald der – mittlerweile immerhin in vier Bänden vorliegende – als Pentalogie geplante Haute Mer-Zyklus vollständig vorliege. Angesichts der Experimentierfreudigkeit der Autorin, die sich im Laufe ihrer Entwicklung immer stärker einer abstrakt-theoretischen Thematik zugewandt hat und deren sich von Roman zu Roman verändernde Erzählweise dem Leser eine beträchtliche Verstehensleistung abverlangt, ist (leider) weder für Frankreich noch für Deutschland zu erwarten, dass die Romane Cécile Wajsbrots Auflagenrekorde erzielen werden.
2 Darstellung des literarischen Raums
Ansgar Nünning hat den Terminus „Raumdarstellung“ als „[…] Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Objekten wie Schauplätzen, Landschaften, Naturerscheinungen und Gegenständen in verschiedenen Gattungen“1 bezeichnet. Unter Bezugnahme auf Jurij Lotman weist Nünning darauf hin, dass die Funktion der Raumdarstellung in literarischen Texten sich keineswegs in einer „[…] Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hintergrunds“2 erschöpfe, sondern, wie Natascha Würzbach betone, vielmehr auch als „[…] fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung […]“3 fungiere. In ähnlicher Weise argumentiert Karin Wenz, wenn sie feststellt, dass der literarische Raum zwar „als Kulisse für Handlungen“ diene, aber darüber hinaus „[…] zum Resonanzboden für Emotionen und Stimmungen und somit zur Projektionsfläche geistig-seelischer Inhalte […] oder […] zum Medium für symbolische oder mythische Weltentwürfe [werde]“.4 Wenn man sodann berücksichtigt, dass der Begriff „Raum“ grundsätzlich zunächst auch philosophisch zu hinterfragen ist, tut sich ein überaus weiter Frage- und Problemhorizont auf, der eine Konzentration auf die für die Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit relevanten Aspekte erfordert. Dabei geht es darum, jene Aspekte der Raumkonstitution zu beleuchten, die als Matrix für die Formulierung von Leitfragen im Hauptteil der Arbeit dienen können.
2.1 Von Ernst Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung
„Raum“ bzw. „Räumlichkeit“ haben nicht nur die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt,1 sie sind als eines der konstitutiven Elemente des Romans seit jeher auch Forschungsgegenstand der kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Allerdings wurde das Erkenntnisinteresse der „[…] historischen, archäologischen und philologischen Wissenschaften […]“ nach 1800 – nicht zuletzt unter dem Einfluss Hegels und des deutschen Idealismus – in stärkerem Maße „[…] durch temporalisierende Wissensformen […]“2 gelenkt und geprägt. Vor diesem Hintergrund hält Birgit Neumann das Urteil Böhmes, dass der „Raum wie ein unreiner Stiefbruder der Königin Zeit behandelt wurde“, für nachvollziehbar.3 So spielt sowohl in älteren als auch in neueren Texten zur Erzähltheorie „Raum“ als eine der Grundkategorien der Erzähltheorie kaum eine Rolle,4 obwohl Doris Bachmann-Medick zu Recht darauf hinweist, dass „[i]n der Literaturwissenschaft […] der „erzählte Raum“– von der Phänomenologie bis zur Semiotik des literarischen Raums – schon längst vor dem spatial turn behandelt worden [ist]“5. Als unumstößliche Tatsache hat jedoch auch zu gelten, dass im Zuge der Integration der Philologien in den Bereich der Kulturwissenschaften die Bedeutung des Räumlichen in der Literatur im Allgemeinen und im Roman im Besonderen verstärkt in den Blick gerückt und neu akzentuiert und bewertet worden ist. Den ersten Anstoß dazu gab bereits im Jahre 1967 Michel Foucault in einem vor Architekten in Paris gehaltenen Vortrag über Heterotopien, den er mit einer klaren Abgrenzung des 20. vom 19. Jahrhundert einleitete:
Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte: Themen wie Entwicklung und Stillstand, Krise und Zyklus, die Akkumulation des Vergangenen, die gewaltige Zahl der Toten, die bedrohliche Abkühlung des Erdballs. […] Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen. Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.6
Ein Wandel hat auch im Hinblick auf das Verständnis der Kategorie „Raum“ an sich stattgefunden. Wenn Doris Bachmann-Medick allerdings unter Berufung auf „[…] postmoderne Geographen […]“ wie z.B. Edward W. Soja feststellt, dass „[…] in der neuen Konzeptualisierung […] Raum gerade nicht Territorialität, Behälter von Traditionen [meint]“, sondern vielmehr zu verstehen ist als „[…] soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit