L’exploration est infinie, et le roman […] n’a encore découvert que la surface émergée de l’iceberg, n’a rien couvert encore de l’espace qui va du silence à la parole, de la vie à la mort, n’a rien franchi de cette distance infranchissable qui sépare Achille et la tortue.24
Gewiss mag man Cécile Wajsbrot vorwerfen, dass ihre Erklärungen bzgl. des „mystère de la littérature“ recht vage bleiben.25 Es ist für sie jedoch von entscheidender Bedeutung, dass es in einer durch und durch rationalisierten Zeit, in der man alle Fragen – bis in die „[…] zones obscures de la personnalité […]“26 – für erklärbar hält und den Tod nur noch als ursächlich genau zu bestimmende „Panne“ (accident de parcours) betrachtet, mit dem Roman einen poetischen Raum für das „Geheimnisvolle“ gibt. Das „Geheimnisvolle“, in welcher Form es sich auch äußern mag, bewirkt jedoch, wie Cécile Wajsbrot andeutet, etwas als angenehm Empfundenes: Das „grelle Licht“ einer umfassenden Erklärbarkeit aller Belange des Lebens wird von der das „Geheimnisvolle“ umgebenden Dunkelheit umhüllt und eben dadurch auch erträglicher:
Peu importe la forme ou le visage que prend le mystère, les agissements de quelqu’un, une venue, une disparition, une question d’identité, ce qui compte, c’est qu’il soit là, c’est qu’un peu de ses ténèbres vienne obscurcir enfin la lumière crue.27
Der Unterschied zwischen einer nur an Fakten orientierten, um Aktualität bemühten, abbildhaften „écriture“ und der aus einer zeitlichen und gedanklichen Distanz abwägenden, eine eigene Weltsicht vermittelnden und dabei um Antworten auf existentiell wichtige Fragen ringenden „littérature“ wird auch an dieser Stelle noch einmal besonders deutlich. Aufgrund der hier skizzierten Eigenschaften von „littérature“ kann Cécile Wajsbrot daher auch mit Fug und Recht von der „[…] universalité de la littérature […]“ sprechen, insofern, um eines ihrer Beispiele zu zitieren, Tolstois Krieg und Frieden nicht nur in nostalgischer Erinnerung an die napoleonische Zeit lebende Russen interessieren dürfte.28 Es macht den besonderen Charakter von Literatur aus, dass sich im Beispiel des Einzelfalles stets allgemein Menschliches spiegelt.
Für eine Studie über die Darstellung literarischer Suchbewegungen im Erzählwerk Cécile Wajsbrots liefern die hier zusammengefassten literaturtheoretischen und -historischen Überlegungen der Autorin verschiedene Anhaltspunkte. Dies gilt insbesondere für
ihre These, dass der Roman eine „[…] totalité de la forme et du contenu“ darstellt
ihre Überzeugung, dass das Schreiben eines Romans Vertrautheit einerseits mit der Geschichte und der literarischen Tradition, andererseits mit den örtlich-räumlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen der Gegenwart (im Sinne der Entstehungszeit des Romans) voraussetzt
ihre Forderung, dass ein „roman littéraire“ dem Anspruch eines Zeitzeugnisses gerecht zu werden habe.
1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots
Einen überaus hilfreichen und gewinnbringenden Zugang zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots eröffnet der bereits in der Einleitung erwähnte, 2010 erschienene, von Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann herausgegebene Sammelband Du Silence à la voix – Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot.1 Einer der Vorzüge des Buches ist, dass die Herausgeberinnen in ihrem einleitenden Aufsatz2 im Sinne einer „grobe[n] Typologisierung“ (S. 9) die thematischen Schwerpunkte des Werks der Autorin vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte und ihres persönlichen Werdegangs herausarbeiten und es insgesamt treffend als „literarische Suchbewegung“ bezeichnen,
die zwar durchaus an historische Dokumente und überlebende Zeitzeugen anknüpft, deren Anliegen es aber ist, den Grenzbereich zwischen dem Sagbaren und dem Ungesagten, zwischen öffentlicher Geschichte und privater Erinnerung, zwischen Gedenken und Vergessen auszuloten.3
Dass neben der Beschäftigung mit historischen bzw. zeitkritischen Themen die Auseinandersetzung mit den Künsten ab Caspar-Friedrich-Strasse (2002) die Romane Cécile Wajsbrots beherrscht, stellen die Herausgeberinnen in einer kritischen Sichtung der bis zum damaligen Zeitpunkt erschienenen Werke dar, indem sie den Zusammenhang zwischen dem „Zyklus der Künste und ihrer Rezeption“ betonen.4 Verdienstvoll ist nicht zuletzt die beigefügte Bibliographie,5 die einen Überblick über die bis 2010 erschienenen Werke Wajsbrots (einschließlich der Hörspiele und einer Auswahl von Übersetzungen aus dem Englischen und Deutschen), Interviews, Rezensionen in der französisch- und deutschsprachigen Presse sowie über die Forschungs- und weiterführende Literatur bietet.
Ein weiterer Vorzug des Sammelbandes ist, dass im Kapitel I Cécile Wajsbrot nicht nur mit dem eigens für den Band verfassten kurzen Erzähltext La Ville de l’oiseau6, sondern auch mit dem literaturtheoretischen Text Traverser les grandes eaux7 und in einem Interview zu Wort kommt, das von Elke Richter und Natascha Ueckmann zum Thema „L’irréparable et la vie quotidienne“ geführt wird.8 Inhaltliche Schwerpunkte des an Pour la littérature (1999) anknüpfenden Essays Traverser les grandes eaux – der Titel wirkt wie ein Echo auf den Haute Mer-Zyklus – sind insbesondere die Auseinandersetzung der Autorin mit der Rolle der Sprache und Literaturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Nouveau Roman, Probleme des eigenen Schreibens und die Bedeutung literarischer Vorbilder. Ein besonderer Akzent des Interviews liegt auf der Frage der Herkunft der Autorin und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für ihr Werk und ihre Wohnsitze in Paris und Berlin.
Zwei Themenkreise, die für das Erzählwerk Cécile Wajsbrots von besonderer Bedeutung sind, werden in den Aufsätzen der Kapitel II – (Gegen) Das Schweigen schreiben – und III – Dialog der Künste – multiperspektivisch beleuchtet.
In Kapitel II arbeitet zunächst Dominique Dussidour in einer subjektiv-essayistischen Form wichtige Merkmale der Romane Nation par Barbès, Caspar-Friedrich-Strasse, Le Tour du lac und Mémorial heraus und gelangt zu dem Schluss, dass „[…] c’est bien d’un temps et d’un espace à eux, et à eux seuls, non partageables, qu’ont besoin les écrivains […] ils ont autant besoin, et même nécessité, d’un temps et d’un espace communs avec vous, avec tous“9.
Aus einer literarhistorisch-kulturwissenschaftlichen Sicht setzen sich Katja Schubert10 und Margarete Zimmermann11 mit Beaune-la-Rolande (Schubert, Zimmermann) bzw. Le Tour du lac, Mémorial, Conversations avec le maître und L’Île aux musées (Zimmermann) auseinander.
K. Schubert „ [zeichnet] die interne Bewegung des Textes zwischen Beaune-la-Rolande/Auschwitz als Ursprungs- und Gründungsereignis mit mythischen Konnotationen auf der einen und als radikaler universaler Frage auf der anderen Seite [nach]“. Neben einer historischen Kontextualisierung des Textes vermittelt K. Schubert wertvolle Einblicke in die ihn prägenden „Kompositions- und Schreibverfahren“.12
Margarete Zimmermann analysiert die Opposition zwischen „[…] Erinnern und Vergessen, Reden und Schweigen“ im konkreten Rückgriff auf „[…] eine Beschreibung der zu ihnen gehörenden semantischen Felder innerhalb des Wajsbrotschen Œuvres“. Darüber hinaus „[…] ergibt sich über diese Begriffe, vor allem über den des Schweigens, eine Positionierung Cécile Wajsbrots in ihrem Verhältnis zur Tradition der Moderne (hier vor allem zu Virginia Woolf); ferner ist es auf diese Weise möglich, sie präziser im Kontext der Gegenwartsliteratur, des extrême contemporain, zu situieren.“13 In der Literatur der Gegenwart seien Robert Antelme, Charlotte Delbo, Maurice Blanchot, Marguerite Duras und Primo Levi für C. Wajsbrot Autoren, die aufgrund der „[…] Rückholung einer geschichtlichen Substanz in die erzählende Literatur der Gegenwart […] vorbildlich und traditionsstiftend […]“ waren.14 Wichtige literaturtheoretische Positionen der Autorin arbeitet M. Zimmermann unter Bezugnahme auf die Essays Pour la littérature