Marc hingegen erweckt bei der Ankunft in Saint-Thomas mit seiner Behauptung „Rien n’a changé […]“3 den Eindruck, als habe sich aus seiner Sicht seit seinem Aufenthalt im Herbst nichts geändert, als sei die Zeit stehen geblieben. Trotz der chaotischen, ungeklärten Verhältnisse, in denen er lebt, scheint er zu hoffen, dass sich, wie im Herbst, seine sich mit dem Ort verbindenden Erwartungen, welcher Art sie auch seien, erfüllen mögen. Er betrachtet Saint-Thomas ganz offensichtlich als einen aus dem Verlauf der Zeit herausgenommenen Garanten des Glücks.
Die erhoffte Befreiung von der „Gegenwart“ Loïcs vermag der Ort Saint-Thomas in Agathe einstweilen nicht zu bewirken. Ihr Warten (l’attente), im Fluss der Erzählung metaphorisch konkretisiert zum „[…] lieu des espoirs permis, de ce qu’on imaginait, qui allait se produire, l’accomplissement était la fin des espoirs, le début du décalage entre ce qu’on imaginait et ce qui se produisait“4, projiziert sie in ihrem Bewusstsein einstweilen eindeutig weiterhin auf Loïc, wobei sie offensichtlich nicht mehr an eine Erfüllung ihrer Hoffnung zu glauben vermag. Dafür sprechen folgende Indizien:
Liebe ist für Agathe nicht mehr ein Dialog, sondern „[…] une série de monologues alternés […]“5.
Das Bild „Der Kuss“ von Gustav Klimt wird von der Erzählstimme mit der morbiden, im Kontext auf Agathe projizierten Vorstellung in Verbindung gebracht, dass die Frau im Moment der völligen Hingabe dem Tode nahe ist.6
Und schließlich reagiert Agathe auf den Vorschlag Marcs, mit Loïc nach Saint-Thomas zu reisen, abweisend, da sich vor ihr eine Mauer aufzutürmen scheint: „Je n’y crois plus […] J’ai l’impression d’un mur […] qui se dresse devant moi […]“7
Es ist kennzeichnend für die Befindlichkeit Agathes, dass sie sich in eben diesem Moment bewusst macht, dass sie sich „mit anderen“ (avec les autres) in einer Sackgasse (une impasse) wähnt, während ein Gespräch mit Loïc bewirkte „[qu’] elle voyait le monde s’ouvrir, l’horizon s’éclaircir“.8 Und trotz aller Bemühungen Agathes, sich von Loïc innerlich zu lösen, bleibt er gegenwärtig. Verstärkt drängt sich ihr Gefühl seiner anhaltenden Präsenz insbesondere „[…] dans cette chambre […]“ auf, wo „[…] tout ce qui aurait eu un sens avec Loïc n’en avait pas avec Marc […]“.9 Für „dieses Zimmer“, mit dem sich ursprünglich so viele Hoffnungen Agathes verknüpften, trifft die Beobachtung Gerhard Hoffmanns zu, dass „[…] die Anwesenheit bestimmter Personen ein Zimmer, ein Haus ‚eng‘ oder ‚weit‘ machen kann“, so dass eine „Gestimmtheit des Raumes“ entsteht.10 Zur „Gestimmtheit des Raumes“ im weiteren Sinne tragen daneben die wiederholten Hinweise auf den Regen bei, der auf dem Höhepunkt der Entwicklung ein sintflutartiges Maß annimmt, den Horizont verschließt und in Agathe und Marc den Eindruck einer „vie sans issue“ aufkommen lässt.11 In eben diesen Kontext platziert die Erzählstimme auch die in Agathe aufsteigende Erinnerung an den Suizid Virginia Woolfs, Robert Schumanns und einiger berühmter Schriftsteller. Ausgelöst wird diese Erinnerung durch ihre Beschäftigung mit dem Roman Soleil couchant von Ozamu Dazai, der 1948, ein Jahr nach Erscheinen dieses Buches, den Freitod wählte.
Gleichzeitig gibt es eindeutige Signale für eine sich anbahnende neue Entwicklung: Als Agathe beim Anblick des Gewitters ausruft: „Et voir l’orage de notre chambre […]“,12 erschrickt sie darüber, dass sie anstelle des bestimmten Artikels „la“ den Possessivdeterminanten „notre“ verwendet und so den Eindruck erweckt hat, als spräche sie mit Marc wie mit Loïc. Sobald Marc den Namen „Loïc“ ausspricht, hat sie zwar den Eindruck, als ob Loïc das Zimmer beträte und sich zwischen sie setzte. Dass sie dabei Loïc jedoch inzwischen als „Eindringling“ empfindet, ist ein klares Indiz dafür, dass sich ihre Gemütsverfassung ändert.13 Schließlich denkt Agathe inzwischen auch darüber nach, dass bzw. warum sie und Loïc stets nur ihre Zweisamkeit gepflegt und sich nie gegenseitig ihre Freunde vorgestellt haben. Das „[être] seuls au monde, sans passé, sans attache […]“ bedeute auch „[être] sans avenir […]“, eine Diagnose, die zur Veranschaulichung noch durch eine Insel-Metapher ergänzt wird, die eine Haltung der Selbstgenügsamkeit und der bewussten Isolation von der persönlichen Umgebung als Ursache für Vitalitätsverlust benennt: „[…] une île isolée en plein océan qui n’est reliée à aucun continent est vouée à rester une île, belle, protégée mais sans vie […]“.14
Zusätzlich sind es atmosphärische Signale, konkret das Nachlassen des Regens und die sich andeutende Öffnung des Horizonts, die eine Zäsur in der Romanhandlung ankündigen. Nach einem Strandspaziergang befinden sich Agathe und Marc in ihrem Zimmer. Der Regen hat aufgehört, der Himmel verfärbt sich, die sich auflösenden grauen und schwarzen Wolken weichen einer orangefarbenen Kulisse, hinter der die Sonne verborgen bleibt, aber doch mal ihre Präsenz erahnen lässt und mal ihre Absenz demonstriert. Auf die dieses Schauspiel aus ihrem Zimmer betrachtenden Agathe und Marc wirkt dieses Phänomen verwirrend, versinnbildlicht es doch einen Zustand der Unklarheit und Unentschiedenheit.15 Es folgen Signale der Klärung und Befreiung: der Schrei der Mutter aus Soleil couchant,16 der Hinweis auf Polarforscher wie Amundsen und Ross, die „[…] un horizon inconnu […]“ und bisher unberührte Zonen entdeckt und erforscht haben, und schließlich die Nachricht bzgl. der reinigenden Wirkung des Regens: „C’était la nuit, la pluie avait lavé le monde et le ciel dégagé brillait de mille étoiles […].“17
Auch als Agathe und Marc aus ihrer ersten Liebesnacht erwachen und das Licht des Tages in ihr Zimmer dringt, präsentieren sich das Meer und der Himmel von ihrer besten Seite.18 Agathe jedoch ist angesichts ihres eigenen Verhaltens irritiert und verunsichert. Erzählerisch wird ihr Empfinden durch eine Fülle von in der Mehrzahl räumlich bestimmten Bildern wiedergegeben, die ihre innere Zerrissenheit und Desorientierung zum Ausdruck bringen:
Sie glaubt, mit Loïc und Marc in jeweils zwei parallelen Universen zu leben, die sich in ihrer Person treffen.19
Agathe sieht sich selbst zwar nicht in zwei Persönlichkeiten gespalten, erkennt aber in ihrem Innersten eine Grenze, deren Verlauf kurvenreich und hochgradig unstet ist und zwei einander nicht unähnliche, aber auch nicht zur Übereinstimmung gelangende Teile ein und derselben Person voneinander trennt.20
Hatte Agathe bislang den Eindruck, sich in ihrer Beziehung zu Marc auf einem „festen Grund“ zu bewegen, so empfindet sie nach der Liebesnacht das exakte Gegenteil. In zwei unmittelbar aufeinander folgenden Metaphern findet ihr Gefühl des Bedrohtseins in Bildern von Naturkatastrophen einen sehr plastischen Ausdruck.21
Nicht zuletzt erinnert sie sich an die vielfältigen Gefahren der Seefahrt. Von dem sie umgebenden Schweigen fühlt sie sich wie von Packeis eingeschlossen, und sie vergleicht ihre Situation mit der von überwinternden Booten, die auf das Schmelzen der Eisschollen warten, dabei auch durch den auf dem Rumpf lastenden Druck zum Kentern gebracht werden können.22
In ihrer von Selbstzweifeln und -vorwürfen bestimmten Haltung unterscheidet sich Agathe deutlich von Marc, „[…] qui semblait tout considérer avec naturel“.23 Unter dem Eindruck der Besichtigung der Abbaye Mont-Saint-Michel, deren Wirkung auf die Besucher nicht zuletzt auch durch eine Jahrhunderte umspannende Geschichte geprägt wird, die ganz wesentlich den Genius des Ortes ausmacht, fühlt sich Agathe „[…] comme si elle n’était pas faite pour ce monde, pas faite pour la vie […]“.24 In ihrer Erinnerung an ihre Kindheit sieht sie sich in eine arktische Landschaft versetzt, in der sie als Einzelne von einem isolierten Boot aus Eisberge und unbekannte Gegenden an sich vorbeiziehen sieht. Als wie abweisend und abwehrend sie ihre Mitmenschen empfunden und wie schutzlos sie sich selbst erlebt haben muss, vermittelt die folgende, vom Erzähler auf sie fokalisierte Beobachtung, in der sich Raum-, Natur- und Kriegsführungsmetaphern zu einer ins Extreme gesteigerten Bedrohungskulisse vereinen: „C’était cela, les autres étaient des terres inconnues, des masses compactes, des blocs de glace, des citadelles imprenables, des murailles sans prise, et elle, au milieu d’eux, se sentait sans défense