2.4.2 Die Schauplätze – Auswahl und Entfaltung der wechselseitigen Beziehungen
Im Hinblick auf Voyage à Saint-Thomas bietet sich auf der paradigmatischen Achse eine Differenzierung in von den handelnden Figuren unmittelbar bzw. nur medial erlebte Orte und Räume an. Während Paris der Ort ist, an dem alle Figuren beheimatet sind, bleiben die Reise nach Saint-Thomas und der Aufenthalt ebendort und auf den benachbarten Inseln Agathe und Marc vorbehalten. Agathe sucht als einzige die – museal vermittelte – Begegnung mit der Landschaft der (Ant-)Arktis. Der Überblick über die Handlungsorte in Paris lässt erkennen, dass die Zusammenkünfte größtenteils jeweils an einem neutralen Ort stattfinden. Dass Beschreibungen der Wohnungen der handelnden Personen fehlen, unterstreicht das bereits im Titel des Romans zum Ausdruck gelangende „Unterwegssein“ der Protagonisten.
Die der syntagmatischen Achse zuzuordnende Betrachtung der Relationierung der Orte bzw. Räume ist zugleich eine Analyse der Beziehung zwischen den Handlungsträgern. Das für die Diegese zentrale Spannungsverhältnis zwischen Paris und Saint-Thomas spiegelt die Problematik des Verhältnisses zwischen Agathe und Loïc bzw. Marc wider. Die diachronische Form der „histoire“ legt es nahe, die Analyse textchronologisch zu strukturieren und dabei inhaltliche und formale Aspekte zu integrieren. Die Überlegungen, die auf die Chapelle Notre Dame als sakralen Ort, der nicht in den Handlungsablauf integriert ist, bezogen sind, sowie die Beobachtungen zu den von Agathe nur medial erlebten Landschaften (der Ant-Arktis) werden aus heuristischen Gründen ausgegliedert. Inhaltlich und formal bleiben sie eng auf die zentrale Beziehungsproblematik bezogen.
Paradigmatische Achse – Auswahl der Orte
An erster Stelle sind die mit einem unterschiedlichen Grad an Genauigkeit referentialisierbaren, von den handelnden Figuren erlebten Orte zu nennen. Zu dieser Gruppe gehören
(1) die Stadt Paris mit mehreren Schauplätzen, von denen die nachfolgend genannten (relativ) präzise lokalisiert werden können:
„[…] le grand café près de Beaubourg […]“, in dessen Nähe eine elektronische Uhr mit grünen Ziffern den zeitlichen Abstand bis zum Beginn des Jahres 2000 anzeigt1
der Jardin du Luxembourg2
der Jardin des Plantes mit der vermutlich im – namentlich nicht erwähnten – Muséum national d’Histoire naturelle zu situierenden Ausstellung über den Polarkreis3
der Ort der ersten Begegnung zwischen Agathe und Loïc in einer Wohnung auf der Île Saint-Louis im Zentrum von Paris4
Andere Orte in Paris werden nur durch die dort stattfindenden Handlungen definiert. Dies gilt für
bestimmte, namenlos bleibende Cafés5
die Wohnung Loïcs, der „de chez lui“6 telefoniert
die Straßen von Paris („ […] dans les rues de Paris […]“)7
(2) die Chapelle Notre-Dame de Grâce oberhalb von Honfleur8
(3) der Ort Saint-Thomas, sofern man davon ausgeht, dass er identisch ist mit dem in der Baie du Mont-Saint-Michel gelegenen Dorf Saint-Jean-le-Thomas, sowie die von dort leicht erreichbaren Inseln9 und der Mont-Saint-Michel10.
An zweiter Stelle zu erwähnen sind referentialisierbare, von den handelnden Figuren medial erlebte Räume wie
die (beim Besuch Agathes) in der o.g. Ausstellung präsentierten Orte und Räume11
die in Verbindung mit berühmten Entdeckern genannten Ziele12
Auf eine Nennung der intertextuell vermittelten Räume wird aus dem in B 2.4.1, S. 119, Anm. 216, genannten Grund verzichtet.
Syntagmatische Achse – Relationierung der Orte
Paris – Saint Thomas: Etappen einer Entwicklung
Abkehr von Paris: Saint-Thomas als Agathe und Loïc verbindendes Ziel
Die bereits in Kapitel 1 angelegte Opposition zwischen Paris und Saint-Thomas wird im Verlauf der Romanhandlung schrittweise weiter entwickelt. Agathe erlebt das Stadtviertel von Paris, das sie nach dem Verlassen eines Cafés gemeinsam mit Jeanne betritt, als einen Kontrast zu dem ihr bisher unbekannten, in ihrer Vorstellung gleichwohl präsenten Küstenort Saint-Thomas:
Il faisait beau, Jeanne lui [à Agathe] proposa de sortir du café, et par une série de rues tranquilles, tandis qu’Agathe se demandait quel temps il faisait, à Saint-Thomas, tandis que la plage et la mer qu’elle n’avait jamais vues et qu’elle imaginait, immenses et vides, d’une sérénité apaisante, se substituaient aux rues étroites et sombres qui contournaient des églises sans âme d’une architecture lourde et banale, elles arrivèrent au jardin du Luxembourg où subsistaient, en cette fin de journée, quelques havres de paix […]1
Die Erzählstimme fokalisiert das Leserinteresse von vornherein nicht auf eine sachliche Gegenüberstellung dieser disparaten Orte, sondern auf die subjektive Sehweise Agathes. Dies gelingt ihr durch die hypotaktische Verschränkung einer auktorial präsentierten Abfolge von drei Hauptsätzen – Il faisait beau, Jeanne lui proposa de sortir du café, et par une série de rues tranquilles […] elles arrivèrent au jardin du Luxembourg […] – mit einem komplexen Gefüge untergeordneter Nebensätze, die sie zwischen die den dritten Hauptsatz eröffnende adverbiale Ergänzung und die Kernaussage einfügt. So werden für Agathe die „rues tranquilles“ des Erzählers zu „rues étroites et sombres“, welche Kirchen umgeben, die sie offensichtlich als Beispiele einer seelenlosen, dumpfen Architektur empfindet. Strand und Meer in Saint-Thomas hingegen evozieren in ihr ein Gefühl der Weite und einer friedlich stimmenden Heiterkeit. Einige hingegen als „havres de paix“ erlebte Orte in Paris, die Agathe im Jardin du Luxembourg findet, genießt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern weil ihre Helligkeit eine Vorstellung jenes Lichts vermittelt, in das die Bucht des Mont Saint-Michel vor Sonnenuntergang getaucht ist.2 Obwohl ein gemeinsames Leben mit Loïc Agathe wie ein unerreichbarer Stern erscheint, ist sie realistisch genug zu erkennen, dass für diejenigen, die das Ziel des Zusammenlebens erreicht haben, „[l’étoile] n’avait plus rien d’une étoile et rien d’inaccessible […]“3, und das Miteinander kaum miteinander kommunizierender Paare erscheint ihr eher langweilig und beklemmend.4
Agathes Sehnsucht nach Saint-Thomas verbindet sich mit ihrer Sehnsucht nach Loïc, mit dem sie in den drei Jahren ihrer Bekanntschaft noch keinen gemeinsamen Sonntag hat verbringen können.5 Als sie eines Nachts an ihn denkt, verkörpert er auf eine zugleich unwirkliche und verheißungsvolle Art ihre Hoffnungen auf diesen Ort, und seine tiefblauen Augen werden für sie gleichermaßen zu den Lichtern eines Schiffes auf hoher See und des Dorfes Saint-Thomas.6 Wenn die Erzählinstanz hier noch bildhaft zwischen Trennung und Angekommensein unterscheidet, so unterstreicht der syntaktisch-lexikalische Parallelismus in der resumierenden Feststellung „Oui, cette nuit, elle croyait à Saint-Thomas et elle croyait à Loïc […]“7, dass Agathe Saint-Thomas und Loïc gleichsetzt, Ort und Person für sie gleichsam miteinander verschmelzen.
Innerlich bewegt, aber auch überrascht reagiert Agathe auf Loïcs Drängen, die Reise nach Saint-Thomas zum ursprünglich geplanten Termin, aber begrenzt auf vier Tage, anzutreten:
Agathe le regardait, émue par tout ce qui venait de lui, ses yeux, sa voix, ses mains, le fait qu’il ait l’air de tenir à ce départ, qu’il y revienne, elle se disait – cela lui arrivait parfois – qu’il y avait quelque chose de miraculeux dans cette histoire, et l’émerveillement qu’une telle chose existe, qu’un homme comme Loïc avec une telle expérience de la vie, une telle allure,