Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass Cécile Wajsbrot bereits in ihrem ersten, 1982 erschienenen Roman Une vie à soi mit dem Streben nach schriftstellerisch-literarischer Selbstverwirklichung ein auf Kunst und Literatur bezogenes und damit eigentlich eher für den sehr viel später konzipierten Zyklus Haute Mer geeignetes Thema in einer ihr heute vermutlich nicht mehr angemessen erscheinenden Form und mit namentlich genannten Figuren aufgegriffen hat.
Da die inhaltlichen und formalen Entwicklungen im Werk Cécile Wajsbrots zwar evident, aber nur in eingeschränktem Maße periodisierbar sind, sollte die Gliederung einer auf Suchbewegungen (und damit auch auf Räume) im Erzählwerk der Autorin bezogenen Untersuchung nicht primär und ausschließlich diachronisch angelegt sein. Um zu einem sachgerechten Gliederungssystem zu gelangen, ist es vielmehr notwendig, sich noch einmal genauer bewusst zu machen, dass Cécile Wajsbrot, wie in der Einleitung dargestellt, Raum nie als eine vorgegebene und damit nur noch quasi photographisch abzubildende Größe betrachtet, sondern dass Raumkonstitution sich von Werk zu Werk neu in einem dynamischen Prozess als Bewegung und Suche nach einer optimalen „Verankerung“ der Handlung bzw. als „quête du lieu idéal“ vollzieht. Die in allen Werken inszenierten Suchbewegungen lassen sich drei unterschiedlichen, in erster Linie inhaltlich-thematisch definierten Themenfeldern zuordnen. Die angedeuteten Entwicklungslinien im Werk der Autorin werden durch diese Anordnung keineswegs verdeckt.
Da Cécile Wajsbrot ihre größeren, als „roman“ oder „récit“ veröffentlichten Werke selten monothematisch konzipiert, ist allerdings auch die Abgrenzung von Themenfeldern nicht ganz unproblematisch. Dennoch bietet sich eine grobe Einteilung in Werke mit
vorrangig individuell geprägten Konflikten (histoires individuelles) (I)
Bezügen zu historischen und/oder aktuellen politisch-gesellschaftlichen Problembereichen (II)
Bezügen zu Literatur und Kunst (III)
an.
Ohne weitere Begründung sind folgende Zuordnungen möglich:
(I) Voyage à Saint-Thomas (1998), L’hydre de Lerne (2011)6
(II) La Trahison (1997), Beaune-la-Rolande (2004), Mémorial (2005)
(III) Conversations avec le maître (2007), L’Île aux musées (2008), Sentinelles (2013), Totale Éclipse (2014)
Nachfolgend soll die mit Vorbehalten erfolgende Einordnung der anderen Werke kurz begründet werden. Die Begründungen mögen nicht in jedem Einzelfall zwingend, sie sollten jedoch nachvollziehbar und vertretbar sein.
Dem Themenfeld I mit Einschränkungen zuzuordnen sind:
Atlantique (1993)Atlantique ist ein kompliziertes zwischenmenschliches „Beziehungsdrama“, in dem der Tod einer jungen Frau, die das einzige weibliche Mitglied eines Streichquartetts war, den Regisseur Gilles veranlasst, die drei anderen Mitglieder des Quartetts zu einem privaten Gedenkkonzert einzuladen, bei dem Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ (Text: Matthias Claudius) aufgeführt werden soll. Das von der Renaissance bis in die Gegenwart in der Malerei (Hans Baldung Grien), Musik (Schubert) und Literatur (Walser, Michel Tournier) aufgegriffene und verarbeitete Thema wird von Cécile Wajsbrot in sehr eigenständiger Art bearbeitet. Die von den vier Satzbezeichnungen des Streichquartetts übernommenen Kapitelüberschriften bilden ein vornehmlich formales Bindeglied und spiegeln allenfalls teilweise die steigende Dramatik der Handlung wider.
Le Désir d’Équateur (1995)In ihrem Roman Le Désir d’Équateur behandelt Cécile Wajsbrot das Thema Bisexualität primär aus individualpsychologischer und nicht aus gesellschaftskritischer Perspektive. Die zeithistorischen Bezüge – der 09.11.1990 als erster Jahrestag des Mauerfalls markiert das Ende der hetero- und homoerotischen Beziehungen der autodiegetischen Erzählerin – dienen der zeitlichen Strukturierung des Handlungsablaufs, sind jedoch darüber hinaus chronotopische Spiegelungen eines existentiellen Neuanfangs.
Mariane Klinger (1996)Im Zentrum der Handlung steht die Bemühung der Titelheldin, sich aus der „Gefangenschaft“ eines „mariage arrangé“ durch die Rückkehr von New York nach Europa zu befreien. Ihre Lektüre von Thomas Manns Joseph und seine Brüder, die Anwesenheit Thomas Manns an Bord des Schiffes, die Begegnung mit anderen Passagieren, die zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart führen, dienen dazu, die individuelle Suche Mariane Klingers nach einem Ort, der für sie Glück bedeuten könnte, zu perspektivieren. Entscheidend für die Zuordnung zum Themenfeld I ist jedoch, dass der Entschluss Marianes und auch Judiths, im Jahr 1929 in einen „mariage arrangé“ einzuwilligen, nicht eindeutig politisch motiviert war.7 Die Entscheidung Marianes, 20 Jahre später ihren Mann und Sohn zu verlassen und nach Europa zurückzukehren, ist zwar nicht monokausal erklärbar, primär jedoch auf das Scheitern des Ehe- und Familienlebens zurückzuführen.
Für die Zuordnung der drei o.g. Romane zum Themenfeld I sprechen überdies die im Kapitel C 2 genannten inhaltlichen und formalen Parallelen sowie – in diesem Fall – die Tatsache, dass sie kurz nacheinander erschienen sind und somit – gemeinsam mit Voyage à Saint Thomas (1998) – einer zusammenhängenden Schaffensperiode angehören, in der allerdings auch der sich durch eine Thematik sui generis auszeichnende Roman La Trahison (1997) entstanden ist.
Dem Themenfeld II mit Einschränkungen zuzuordnen sind:
Nation par Barbès (2001)In Nation par Barbès werden die Glückssuche der in Paris beheimateten und sehr zurückgezogen lebenden Léna und der im Suizid endende Existenzkampf der sich illegal in Paris aufhaltenden, nach Arbeit und Wohnung suchenden Bulgarin Aniela zunächst parallel dargestellt und dann durch Jason, eine zwischen den beiden Frauen stehende dritte Person, miteinander verschränkt. Da Léna eindeutig für Aniela Partei ergreift, ist der Roman weniger im Hinblick auf die individualpsychologischen als vielmehr die gesellschaftskritischen Implikationen bedeutsam.
FugueDer Text liest sich bei nur oberflächlicher Betrachtung wie die Erzählung einer psychopathisch veranlagten autodiegetischen Erzählerin, die nach den für sie nicht genau einzuschätzenden, u.U. jedoch tragischen Folgen eines weitgehend unmotivierten Steinwurfs von der fünften Etage eines Mietshauses von Paris nach Berlin geflohen ist, um sich dort von der Last der Erinnerungen zu befreien und noch einmal „bei Null anzufangen“. Roswitha Böhm weist sicherlich zu Recht darauf hin, dass der Text einerseits „[…] eine Auseinandersetzung mit Schuld und Verstrickung […]“ ist, andererseits jedoch, wie schon zuvor Beaune-la-Rolande, auf „[…] das Gewicht der Geschichte[…]“8, anspielt, das angesichts des Ausmaßes der Verbrechen nicht von nur einer Generation zu tragen sei.
Dem Themenfeld III mit Einschränkungen zuzuordnen sind:
Une vie à soi (1982)Une vie à soi ist allenfalls auf den ersten Blick nur die persönliche Geschichte der (fiktiven) ehrgeizigen Journalistin Anne Figuières. Durch ihre Nachforschungen über das Leben und das Werk Virginia Woolfs und ihre Suche nach einem der Dichterin zugeschriebenen, aber vielleicht gar nicht existierenden Text wird das die beiden Frauen verbindende Streben nach schriftstellerischer Selbstverwirklichung bzw. Identifikation mit Literatur als zentrales Lebensziel zum Ausdruck gebracht. Die emanzipatorischen Parallelen in der persönlichen Lebensführung unterstreichen die Individualität der Charaktere, die sich wesentlich über ihre Entscheidung