Die Einführung animalischer Figuren beruht auf einer langen Tradition satirischer Literatur in Europa; anders als etwa in der Fabel suggeriert diese hier jedoch nicht die Menschenähnlichkeit, sondern gerade die Fremdheit der tierischen Position.14 Im Vergleich zu Platens Adaptation verschiebt sich bei Grabbe hier der Gestus der Abgrenzung: Nicht mehr gesellschaftlich ‚niedere’ und ‚höhere’ Figuren werden einander gegenübergestellt, stattdessen wird eine antiprimitive Distinktion etabliert, die sich gegen Charaktere aller Schichten richtet.
So werden etwa auf der einen Seite die Stiefmutter von Olympia und ihre Töchter als vulgär, unmoralisch und eigennützig dargestellt – eine Lesart, die bereits in der Vorlage von Perrault dominant ist. Auf der anderen Seite erfindet Grabbe die Figur des jüdisch-bürgerlichen Schuldeneintreibers Isaak, der ähnlich charakterisiert wird. Wenn die zum Kutscher mutierte Ratte am Ende einen wertvollen Scheck auffrisst, um den Isaak im Verlauf des Stückes vergebens gerungen hat, wirkt dieser durch seine wüsten Proteste ebenso tierisch wie das verwandelte Tier:15
RÜPEL Tödt’ doch Niemand um lumpiges Geld, Isaak!
ISAAK Lumpig? Achtzigtausend Thaler machen sich schwer zusammen, und ein Mensch ist gemacht sehr leicht, – man kann einen bekommen um einen Pfennig, oft gar umsonst – Mit 80,000 Thalern kannst Du in Deinen Staaten binnen einem Jahre machen lassen eine Million Kinder! (Dringt wieder mit dem Messer nach dem Kutscher […]).
KUTSCHER hin und her retirierend Hülfe –
(Er stürzt Clorinden an die Brust.)
CLORINDE (macht ihn von sich los:) Laß mich, Ungethüm!
ISAAK Ich stehe hier auf meinen Schein! Ich will den Schein!
RÜPEL Haltet den Shylock am Bart! Es ist kein Spaß, er bringt den Kerl um!
(Isaak wird am Bart gepackt.)
ISAAK Den Bart abgeschnitten! – So nun bin ich wieder frei! – Den Schein!
RÜPEL Ich lasse dich erschlagen, eher Du den Menschen aufschneidest.16
Isaak erinnert dabei an die überdrehten Typen der frühen Commedia dell’arte und ihr teils triebgesteuertes Verhalten. Die Figur ist ein unzerstörbares Stehaufmännchen: Mit ihm wird das Märchenpersonal durch eine „farcial figure, the comic Jew“, der „grotesque and frightening“17 ist, ergänzt. Sein widernatürliches Wesen zeigt sich bereits, als er wiederholt an der Hauswand des Barons hochklettert und unverletzt bleibt, wenn er aus dem zweiten Stockwerk gestoßen wird.18 In ihm, dem ‚Unmenschen’, der als unbequemer antisozialer Schädling präsentiert wird, spiegeln sich die in Menschen verwandelten Tiere des Märchens. Beide erscheinen gleichermaßen unpassend animalisch. Die Ratte wird zum Kutscher, Isaak hingegen kriecht bei Grabbe wie Ungeziefer aus dem Kamin, um in das Haus seines Schuldners zu gelangen.19 So spiegeln sich die Gelüste der in Menschen verwandelten Tiere in den Begierden der getriebenen Menschen.20
Die Wirkung solcher Figuren verdankt sich vor allem der abweichenden, misanthropischen und dramatisch vergrößerten Darstellung der bekannten Märchenvorlage und seiner Liaison mit der Buffonerie des Theaters. In seiner märchenhaft-absurden Übertreibung erlangt Grabbes Aschenbrödel eine satirische Qualität, die auf der übernatürlichen Handlung und den Stereotypen des Märchens einerseits und auf dessen narrativen Leerstellen andererseits fußt. Letztere bedingen sich durch die reduzierte Erzählweise des Märchens, das viele seiner übernatürlichen Handlungsmomente nicht weiter kommentiert. Diese nicht weiter erläuterten unrealistischen Vorkommnisse bieten sich Grabbe für eine dramatische Ausformulierung und Interpretation geradezu an.
An Grabbes Drama lässt sich ablesen, was Jens Roselt als „ironisches Distanzierungsverfahren“ und dessen „widersprüchliche Bewegung des impliziten Dementis“ bezeichnet – indem sich Grabbe des Märchens annimmt, „um sich gleichzeitig von diesem zu distanzieren“21. Es entsteht eine Verbindung von Kontrasten und Widersprüchlichem der verschiedenen Gattungen, indem sich der Autor Merkmale mit ironischem Gestus aneignet. Das satirische Moment zeigt sich dabei durchaus skeptisch gegenüber Konventionen und ist durch Relativierung und Subversion gekennzeichnet.22 Grabbe nutzt die märchenspezifische Lakonie, um eine originelle und zynische Lesart durchzusetzen, die – das Wortspiel sei mir verziehen – einen Rattenschwanz an gesellschaftskritischer Satire nach sich zieht. Auf diese Weise tritt eine Nähe zum Volkstheater zutage, die sich in Grabbes Adaptation als eine Affinität zu hyperbolischen Effekten, zur Groteske und zu stilistischen Brüchen sowie als Destruktion von ästhetischen Formen und Regeln bemerkbar macht.23 Dies gelingt hier vor allem mit der satirischen Fortschreibung der märchenhaften Überzeichnung und Schematisierung.
Trotz seiner Nähe zum Volkstheater hat der Humor von Grabbe, der von Roy C. Cowen auch als ein „Meister des Grotesken und Tragikomischen“24 bezeichnet wird, oft nichts Heiteres wie bei Platen, sondern ist verzweifelt, desillusioniert und voller Verachtung. Zwar ist die Verwandtschaft von Aschenbrödel zu Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung durch die Streichungen verborgen, doch wenn Grabbe letzteres ein „Lachen der Verzweiflung“25 nennt, trifft dies auch wesentlich auf sein Märchenstück zu.26 Auch die Hauptfiguren in Aschenbrödel stellen die Karikatur einer unzulänglichen und verblendeten Gesellschaft dar.27 Obgleich vor allem in der ersten Fassung eine potentiell vielschichtige Anlage und einzelne gelungene Szenen vorhanden sind, konnte Aschenbrödel seinerzeit nicht überzeugen und wird auch heute noch für seine insgesamt eher ungeschickte Handlungsentwicklung kritisiert.28 Nichtsdestotrotz schließt Grabbes Märchenadaptation in den aufgezeigten Aspekten eloquent an die von Gozzi und Tieck begründete Gattung des satirischen Märchendramas an.
II.2 Ausnahmen und Gegenbewegungen
Nach Platen und Grabbe pausierte die satirische Märchenbearbeitung in der deutschsprachigen Dramatik mit Ausnahme von Robert Walsers Lesedramen für etwa ein Jahrhundert. Nennenswert sind allerdings zwei Märchenadaptationen des Österreichers Johann Nestroy im Wiener Volkstheater: 1832 entsteht dessen Satire Nagerl und Handschuh oder die Schicksale der Familie Maxenpfutsch. Neue Parodie eines schon oft parodierten Stoffes in 3 Aufzügen, die sich auf zwei zeitgenössische Aschenbrödel-Opern bezieht. Vier Jahre später schreibt er die märchenhafte Posse Die beiden Nachtwandler oder Das Notwendige und das Überflüssige, welche inhaltlich sehr verwandt mit Grimms Das Märchen vom Fischer und syner Frau ist.
Grundsätzlich handelt es sich jedoch bei Nestroys Märchenstücken um Parodien der Werke seiner Zeitgenossen und weniger um eine direkte Adaptation der Märchen. So geht etwa die Wahl der Märchen nicht auf ihn selbst zurück; vielmehr bedient er sich der Stoffe, die seine Kollegen und Kolleginnen für sich entdeckt haben und greift diese auf, um sich ironisch mit einer zeitgenössischen Theaterästhetik und der Wiener Gesellschaft auseinanderzusetzen. Durch die direkte Übernahme seinerzeit populärer Bühnenstoffe wirkt die intendierte Satire noch unmittelbarer, da die konkreten Bezüge so nicht zu übersehen sind. Es wäre aber verfehlt, Nestroys Märchenoperparodien mit den Märchensatiren von Tieck, Platen und Grabbe in eine direkte Linie zu stellen.1
Der auffällig lange dramenliterarische Dornröschenschlaf wurde zwar um 1900 durch ungewöhnlich viele Märchenbearbeitungen im Drama unterbrochen, allerdings sind diese oft durch den Symbolismus bzw. durch den charakteristischen mythischen Ausdruck einer literarischen Neoromantik geprägt.2 Diese sympathisieren im Zuge einer Besinnung auf die ‚deutsche’ Kultur mit Mystik und Metaphysik.3 Hierzu zählen Eberhard Königs Gevatter Tod (1900), Herbert Eulenbergs Ritter Blaubart. Ein Märchenstück in drei Aufzügen (1905) und Hans Schönfelds