Hannah Fissenebert
Das Märchen im Drama
Eine Studie zu deutschsprachigen Märchenbearbeitungen von 1797 bis 2017
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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Umschlagabbildung: Gustave Doré, Le chat botté
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Dissertation der Humboldt-Universität zu Berlin.
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8314-7 (Print)
ISBN 978-3-8233-0156-1 (ePub)
Für Armü.
Meine Familie.
In Liebe.
In Erinnerung an Minusch, der am 1. September 2017 und
an Tankred Dorst, der am 1. Juni 2017 verstorben ist.
Dank
Für die umfangreiche und freundliche Unterstützung sowie ihre produktive Kritik danke ich besonders Prof. Dr. Steffen Martus und Prof. Dr. Doris Kolesch. Durch ihre aufmerksamen und genauen Hinweise hat diese Arbeit entscheidend gewonnen. Nicht selbstverständlich ist und umso mehr wiegt Steffen Martus‘ Offenheit für das im doppelten Sinne grenzgängerische Forschungsprojekt: Nicht nur dieses Projekt findet sich an der Schnittstelle zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft, sondern auch meine Arbeit als Wissenschaftlerin und Theaterautorin. Was zu dem schönen Umstand führte, ihn auch bei der Uraufführung einer eigenen Märchenbearbeitung am Deutschen Theater in Göttingen begrüßen zu dürfen. Hier entstand, um es mit Ludwig Tiecks Worten zu sagen, ein Zirkel, der in sich selbst zurückkehrt. Es bleibt zu hoffen, dass sich mit der Lektüre dieses Buches nicht auch der zweite Teil des Zitats erfüllt – nach dem „der Leser am Schluß grade eben so weit ist, als am Anfange“.
Darüber hinaus bedanke ich mich für die finanzielle und ideelle Förderung der Studienstiftung des deutschen Volkes, mit deren Stipendium diese Arbeit entstehen konnte. Für hilfreiche Anmerkungen und Korrekturen danke ich vor allem Hartmut von Sass, Christian Fissenebert und Jens Hasselmeier. Dem PhD-Net „Das Wissen der Literatur“ der HU Berlin danke ich herzlich für den anregenden Austausch und die Möglichkeit, diese Arbeit an der UC Berkeley in Kalifornien zu Ende schreiben zu können. Der FAZIT-Stiftung danke ich für den großzügigen Druckkostenzuschuss mithilfe dessen diese Arbeit publiziert wurde. Nicht zuletzt danke ich Sonja Szillinsky und Rike Lorenz für die so unzähligen wie schönen gemeinsamen Arbeitsstunden und, genauso wichtig, die Kaffeepausen.
Wir meinen, das Märchen
und das Spiel gehöre zur Kindheit:
wir Kurzsichtigen!
Als ob wir in irgend einem Lebensalter
ohne Märchen und Spiel leben möchten!1
Friedrich Nietzsche
Einleitung1
Als ob wir zu irgendeiner Zeit ohne Märchen und Spiele leben wollten – so impliziert es Friedrich Nietzsche in seinem Buch für freie Geister. Für ihn zählen auch das märchenhafte Spiel und das Spielerische des Märchens zum ‚Menschlichen, Allzumenschlichen’, sodass es einer „Selbstverkleinerung des Menschen“2, ja einer ‚Kurzsichtigkeit’ gleichkäme, sich dieser Dimension freiwillig zu berauben. Nietzsche behauptet folglich nicht, „ohne Märchen und Spiel“ gar nicht sein zu können, sondern stellt in Abrede, dass man dies überhaupt wollen könnte oder sollte. Und Nietzsche ruft auch nicht dazu auf, ein Kind zu bleiben, um für Spiele und Märchen noch zugänglich zu sein, sondern verteidigt die Bedeutung des Märchens für jedes, auch das reifere ‚Lebensalter’. Genau darin bestünde ‚Weitsicht’, so legt es der Autor nahe, dem Spiel des Märchens Raum zu geben, im gewöhnlichen Leben und auch in der wissenschaftlichen Betrachtung. Gerade im Märchendrama sind Märchen und Spiel miteinander verbunden. In potenzierter Weise werden hier Erkenntnisse durch das Märchen und als Spiel reflektiert. Inwiefern sich das Märchen im Drama im besonderen Maße zur Anschauung und zum Verständnis grundlegender Fragen anbietet, werde ich in der vorliegenden Arbeit betrachten.
Das Märchendrama stellt innerhalb der deutschsprachigen Dramatik eine eigene Traditionslinie dar. Während die zahlreichen Weihnachtsmärchen für Familien und Märchentheaterstücke für Kinder als fester Bestandteil des Theaterrepertoires gelten, wird dem Märchendrama für Erwachsene vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil.3 Dies ist überraschend, sind doch Märchen originär für Erwachsene entstanden.4 Auch haben etablierte deutschsprachige Autorinnen und Autoren von der Romantik bis zur Gegenwart literarische Märchenadaptationen als Dramen verfasst und sich fortlaufend dem Märchen als Gattung zugewandt. In dieser Studie möchte ich die Texte von Dramatikerinnen und Dramatikern im Zeitraum 1797 bis 2017 vergleichend vorstellen und untersuchen, wie in ihnen die Spezifika der Märchengattung ihre Wirkung entfalten.
Die große Relevanz dieses Korpus für die Dramenliteratur zeigt sich in den vielfältigen intertextuellen, reflexiv-kritischen Perspektiven und zeitgenössischen Fragestellungen, die in den Adaptationen durch die generativen Eigenarten des Märchens entworfen werden. Durch die Transformation des Märchens kommt es im Drama zu profunden Auseinandersetzungen mit Rollenbildern, Stereotypen und märchenhaften Illusionen, die den bedeutenden literaturgeschichtlichen Stellenwert des Märchens zur Geltung bringen. Aus diesen märchentypischen Erzählstrategien ergibt sich eine außergewöhnliche dramaturgische Eignung für das Drama. Wie zu zeigen sein wird, weist das Märchendrama folgende Eigenschaften auf: 1.) Fokussierung der märchenhaften Simplifikation, 2.) Reflexion von Darstellungsmitteln, 3.) Befragung des identitätsstiftenden Potentials des Märchens.
1.) Fokussierung der märchenhaften Simplifikation
Meist wird nicht das im Märchen Dargestellte im Drama kommentiert; vielmehr dient die märchentypische Reduktion dem Theatertext, um die auf ihre wesentlichen Züge konzentrierte Welt kritisch zu adressieren. Die Wahrnehmung des Märchens wird hinterfragt, wenn dessen Darstellung einer geordneten Welt reflektiert wird. Für eine entsprechende Umsetzung ergeben sich dadurch verschiedene Optionen der Auseinandersetzung: vom dezidierten Gegenentwurf als Negation starrer Rollen über die ironische Brechung durch die Wiedergewinnung der dem Märchen fremden Ambivalenzen bis hin zur satirischen Affirmation, Fortschreibung und Steigerung. All dies sind Tendenzen, die sich auffällig oft in den zu behandelnden Märchendramen beobachten lassen.
Dabei kommen dem Märchen Eigenarten zu, die im Drama nicht unbedingt als gegeben erscheinen. Das Märchen zeichnet sich durch einfache Erzählkonstruktionen und holzschnittartige Archetypen aus. Weiterhin liefert es keine vordergründigen Erklärungen für seine oftmals supranaturalen Handlungen und Figuren, um dadurch charakteristische Leerstellen freizugeben und dem Rezipienten vielschichtige Projektions- und Identifikationsflächen zuzuspielen. Für das Drama hingegen ist diese Reduktion keine gattungsbedingte Selbstverständlichkeit, sondern eine künstlerische Entscheidung. Die immanente Distanz zum Märchen als Vorlage des Dramas spiegelt sich in einer oftmals explizit intertextuellen Aneignung. Weiterhin werden häufig märchenfremde Stoffe mit der Vorlage verbunden und die intertextuelle Dimension der Dramen somit potenziert.
2.)