Bei Tieck wird Blaubart kurzerhand lächerlich, das Stück wendet sich hier vom Tragischen ins Groteske. So auch, wenn im 1. Akt, Dritte Szene, die Rede auf Blaubarts berüchtigten Bart kommt: Stellvertretend für die ganze Figur wird er als zugleich unheimlich und albern wahrgenommen, denn sein Bart „gibt ihm ein recht grausames, widerliches Ansehn, und dabei sieht er doch etwas lächerlich aus“9. In Perraults Märchen lassen sich solche Darstellungsbrüche nicht finden, auch wird märchentypisch keine Motivierung für Blaubarts Taten vorgenommen. Allein der widernatürlich blaue Bart suggeriert ein unergründliches und fast dämonisches Wesen. Durch die Märchenform braucht es keine weitere Erläuterung dieser Konnotation, sie wird ohne weiteres anerkannt. Tieck jedoch unterläuft diese märchenhafte Selbstverständlichkeit, indem er seinen Blaubart dann teilweise – aber eben nicht zur Gänze – psychologisiert und zwar als alltäglichen, fast lächerlichen Biedermann.10
Zugleich behält Blaubart seinen unnatürlich blauen Bart und handelt weiterhin voller Brutalität und tötet ohne Gnade selbst harmlose Widersacher. „Der unsinnige Tod dieser Ritter stellt die unbeschwerte Heiterkeit der ersten Szenen in ein Zwielicht, in dem das Lachen mit einem gewissen Entsetzen grundiert ist und ziemlich jäh das Beunruhigende einer fraglichen Zukünftigkeit einbricht“11, resümiert Manfred Frank treffend. Auffällig ist, wie sich Tieck die ‚Lizenz’ des Märchens zur unmotivierten Handlung, die sich auch in La Barbe-Bleue finden lässt, zu eigen macht. Indem er den Märchenunhold psychologisiert und ihn zugleich mit psychologischen Widersprüchen ausstaffiert, kreiert Tieck mit seinem Märchendrama eine Gegengattung zum Prosamärchen. In diesem Sinne erneuert er die psychologischen Leerstellen des Märchens und erschafft so im Märchendrama eine neue Qualität.
Dabei wird die lakonische Erzählweise des Märchens nicht bloßgestellt, sondern vielmehr durch einen doppelten Bruch wieder aufgegriffen. Indem Tieck die märchenuntypische Psychologisierung, die er vornimmt, zugleich selbstironisch ins Leere laufen lässt, bestätigt er die Erzählstrategie des Märchens letztlich wieder – obgleich sie im Märchendrama komplexer erscheint. Nicht zuletzt gewinnt das im Vergleich kurze Märchen durch die (sich widersprechenden) Erklärungsansätze sowohl an szenischem Material als auch an Möglichkeiten, sprachlich ausführlich zu werden, ohne die Figuren des Märchens greifbarer zu machen.12
Mit Scherer gesprochen, lässt sich in diesem einheitlichen Widerspruch der Darstellung eine „dramenpoetologische Innovation“ erkennen, da eine „ironisierte Komplexität als Simultanvirulenz äußerst gegenläufiger Dispositionen“ ihre Wirkmacht entfaltet.13 In dieser Hinsicht löst sich auch die Verwandtschaft mit Gozzis Fiabe auf, die solche Brüche innerhalb einer Figur nicht zulassen.14 Gozzis Ansatz der Märchenbearbeitung findet sich nur noch ex negativo: Die Infragestellung des märchenhaft Wunderbaren, die bei Gozzi eindeutig den Masken zugeordnet ist, tritt bei Tieck nur als Zusammenspiel von Affirmation und Infragestellung auf.
Auch im Vergleich zu Perraults Handlungsdarstellung verhält sich die von Tieck insgesamt uneindeutiger und subversiver. Während Perrault mit der Verbindung zwischen Lächerlichem und Furchterregendem arbeitet, die dann am Ende der Handlung zugunsten der Zuspitzung ins reine Grauen kippt, umfasst das Lächerliche und Alltägliche bei Tieck das gesamte Drama.15 Beispielhaft sei hier an den eigentlich höchst dramatischen Schluss des Märchens erinnert, wo Blaubarts Braut verzweifelt nach Rettung ausschaut. Diese Szene findet sich auch bei Tieck. Doch die Staubwolke, die vermeintlich nahende Reiter aufwirbeln, geht bei Tieck nur auf eine Herde Schafe zurück. Als der Bruder der bedrohten Frauen doch noch gesichtet wird, stürzt dieser jedoch mit seinem Pferd den Hügel hinunter und muss den Schwestern zu Fuß entgegenlaufen.16
Hier ist ein parodistischer und relativierender Umgang mit dem Mechanismus des deus ex machina der antiken Tragödie zu beobachten, der im Blaubart anschließend noch weiter ins Absurde getrieben wird: Am Ende stirbt Blaubart sehr schnell und mit einer gewissen Beiläufigkeit, was im Kontrast zur langen dramatischen Zuspitzung steht. Auch der vermeintliche Schatz des Blaubarts, der nach dessen Tod auf zwei Sänften herbeigetragen wird, entpuppt sich nicht als kostbare Beute, sondern als eingesperrter Bekannter der anderen Ritter.17
Grundsätzlich lässt sich in Tiecks Drama ein intertextueller Bezug auf dramenpoetologische Normen nachzeichnen, der besonders wirkungsvoll ist, da die Kritik und Entlarvung von narrativen Mechanismen mithilfe eines scheinbar trivialen Märchenstoffs vorgenommen werden. In dieser Konsequenz ist auch Tiecks zweite Märchendramenadaptation wieder auffällig angefüllt mit intertextuellen Markierungen der Genres und Gattungskonventionen, die satirisch reflektiert werden.18 Die Provokation liegt zum einen darin, dass eine seinerzeit etablierte Dramaturgie durch die Adaptation einer volkstümlich und naiv erscheinenden Geschichte hinterfragt wird. Aus systemreferentieller Sicht werden zum anderen die Konventionen der traditionellen und zeitgenössischen Darstellungsmodi des Dramas destabilisiert, indem durch die ironische Verkehrung ein konstruktiver Mechanismus in Gang gesetzt wird.19
Der besondere Unterschied zu anderen Satiren Tiecks, die auf zeitgenössische Diskurse und normative Darstellungen eingehen, liegt aber in der engen Verknüpfung der poetologischen Eigenarten des Märchens mit einer theatralen Künstlichkeit, die sich schon im Gestiefelten Kater angedeutet hat. Indem der unheimliche Protagonist in Tiecks widersprüchlicher Adaptation zugleich als bieder dargestellt wird, werden die Assoziationen, die das bekannte Märchen La Barbe-Bleue weckt, einerseits aufgegriffen und andererseits gebrochen. Das Spiel mit den Erwartungshaltungen spiegelt sich dabei im Drama, das seine eigenen Regeln und jedwede dramaturgische Zuspitzung gleich wieder spöttisch unterläuft.
Die dramatische Bearbeitung des Märchens betont in diesem Fall den gezielt reduzierten Erzählstil des Märchens, der keine Psychologisierung seiner Figuren zulässt, indem sie verschiedene Motivationen zwar etabliert, sie jedoch gleich wieder gegeneinander ausspielt. Weiterhin wird die holzschnittartige Darstellung im Märchen implizit durch die offengelegte Künstlichkeit der (ritterlichen) Dramenpoetik kommentiert, sodass die Mechanismen beider zutage treten.
Ähnlich wie in seinem Gestiefelten Kater diskreditiert Tieck jedoch das Märchen nicht als Gattung, sondern erschafft ein produktiv irritierendes Vexierspiel, das sich durch Uneindeutigkeit bei gleichzeitig klischeebelasteter Aufladung der Handlung auszeichnet. Während er im Gestiefelten Kater ein tendenziell parabatisches Spiel mit den Erwartungen, die an Märchen gestellt werden, betreibt, betont Tieck in seinem Blaubart stärker das typisch enigmatische Handlungsmovens der Märchenfiguren. Im Unterschied zur Vorlage lässt er die Leerstellen allerdings nicht unkommentiert, sondern füllt diese mit Widersprüchlichkeiten, die sein Verfahren wiederum ad absurdum führen. So bestätigt sein Vorgehen die unergründliche Figurenmotivation, die das Märchen vorgibt und vergrößert es spielerisch in dramatisch wirksamen Zirkelstrukturen.
Ludwig Tieck: Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie (1800/12)
In seiner nächsten Adaptation eines Märchens von Perrault, in diesem Fall Le Petit Chaperon rouge1, fügt Tieck dem Märchen erneut Figuren hinzu: Bekannte, auf die Rotkäppchen bei ihrem Spaziergang durch den Wald trifft, sowie neben dem Wolf weitere sprechende Tiere.2 Schon im Paratext kündigt sich erneut ein satirischer Zugriff an: Der auffällige Titel Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie ist auf eine „ebenso selbstparodierende wie selbsttravestierende Kontrafaktur des christlich-poetischen Trauerspiels in mehrfachen Spiegelungen“3 aus. Allein indem Tieck einem ‚kleinen’ Märchen wie Perraults Le Petit Chaperon rouge im Paratext den Status eines Trauerspiels zuspricht, wird dem Märchen als Form ernsthafte Tragik zugetraut. Dies wird durch die Titulierung als Tragödie weiter betont und Rothkäppchen somit den großen Tragödien der Theatergeschichte generisch zugeteilt.
Im Umkehrschluss bedeutet diese Gleichsetzung aber auch eine spöttische Verkleinerung einer ‚erhabenen’ Dramatik und ihres Regelwerks. Statt fünf Akten gibt es bei Tieck daher konsequenterweise nur noch fünf Szenen und ausgerechnet ein kleines Rotkehlchen zitiert den griechischen Chor, indem es am Schluss eine Klage-