Ein Ansatz zur Veranschaulichung der drei Sphären kann auch darin liegen, dass man nach der Art von Fragen fragt, mit denen sie sich beschäftigen. Hier könnte zugespitzt gesagt werden:
DH im engeren Sinne beschäftigt sich nicht mit Fachfragen aus den einzelnen Disziplinen, sondern mit Fragen, welche die Geisteswissenschaften (oder wenigstens deren konkrete Forschungsfragen) übergreifen oder die Grundbedingungen, die Praxis und die Reflexion geisteswissenschaftlicher Forschung unter digitalen Bedingungen betreffen. Diese übergreifenden Probleme sind die eigentlichen und eigenen Fachfragen der DH.
DH als Spezialdisziplinen beschäftigen sich zwar mit Fragen aus einem disziplinären Kontext; es sind dann aber Fragen, die man sich traditionell so nicht gestellt hätte. Es sind neue Fragen, die durch die veränderten Informationsbedingungen, Bearbeitungsoptionen und Publikationsmöglichkeiten provoziert werden.
DH als Teil der bestehenden Fächer beschäftigen sich damit, wie man bestehende Fragestellungen mit neuen Werkzeugen und vielleicht auch neuen Methoden effizienter und besser bearbeiten kann.5
Digital Humanities als eigenständiges Feld ist in jedem Fall auch für die anderen Sphären eine Leitdisziplin. Seine Formierung lässt sich jenseits aller theoretischen Definitionsversuche schon rein wissenschaftssoziologisch beschreiben. Dabei geht es dann z. B. um eigene Kommunikationsinfrastrukturen (Mailing-Listen, Zeitschriften, Konferenzreihen), verbandsmäßige Organisationsstrukturen, eigene Studiengänge, Institute oder explizite Lehrstühle für Digital Humanities. Institutionalisierung, Professionalisierung und Professoralisierung sind Verfestigungstendenzen, die den DH in ihrem Kern eine Stabilität verleihen, von dem aus sie auf die anderen Bereiche ausstrahlen und ihre Ergebnisse zur Diskussion und zur Nachnutzung stellen.6 Die doppelte Ausrichtung an den eigenen Fragen (auf der Metaebene) und der Orientierung an den Fragestellungen der Geisteswissenschaften ist in der Praxis kein Widerspruch. Beides fließt zusammen, wenn man nach dem wesentlichen Kern der DH fragt, wie dies z. B. in Arbeitsgruppen zu curricularen Konvergenzen in der DH-Ausbildung erfolgt. Dabei lautet die Antwort dann, dass es bei DH immer wieder um zwei wesentliche Aktivitäten und Kompetenzen geht: ‚Modellierung‘ und ‚Formalisierung‘. Dabei bezeichnet Modellierung das Verstehen von Fragestellungen, die Durchdringung von Wissensdomänen und die Abstraktion beider hinsichtlich ihrer Operationalisierbarkeit für rechnergestützte Ansätze. Formalisierung steht für die Entwicklung, die Anpassung und den Einsatz von Informations- und Softwaresystemen für die Bearbeitung der Fragestellungen auf der Grundlage der Modellierung. Dies ist eine stark kondensierende, abstrakte Formulierung. Das Feld der DH lässt sich aber auch sehr einfach beschreiben: Wer wissen will, um was es bei DH geht, der möge sich die Konferenzen zu DH und die dort präsentierten Beiträge anschauen. Dies kulminiert vor allem in der jährlichen Weltkonferenz Digital Humanities. Hier werden regelmäßig hunderte von Beiträgen eingereicht und einem strikten peer-review-Auswahlprozess unterzogen. Die Summe der Beiträge, die von den Kolleginnen und Kollegen der Fachgemeinschaft anerkannt werden, bildet Jahr für Jahr ein gutes Panorama, was als DH verstanden und dabei als ‚state of the art‘ anerkannt wird. Dadurch, dass alle Beiträge mit Schlagwörtern belegt werden, lassen sich zugleich auch das innere Themenspektrum und seine Veränderungstendenzen ablesen.7 Dabei weist das Schlagwortsystem selbst wieder mehrere Dimensionen auf: Zum einen gibt es fachübergreifende ‚topics‘ wie ‚text analysis‘ oder ‚visualisation‘; zum anderen werden Beiträge sehr wohl aber auch ‚disciplines‘ zugeordnet, deren Fragestellungen sie verfolgen, wie z. B. ‚historical studies‘, ‚computer science‘ oder ‚literary studies‘. Jedenfalls dürften die ‚volumes of abstracts‘ einen der besten und umfassendsten Einstiegsmöglichkeiten bieten, wenn man verstehen will, worum es in den Digital Humanities eigentlich geht und was die aktuellen Themen, Tendenzen und Diskussionen sind.
2 Digital Humanities im Forschungsprozess
DH findet in den Fächern statt. Aber wo findet man es im Forschungsprozess? Dieser wird in letzter Zeit gerne als Forschungszyklus beschrieben, der verschiedene Etappen von der Fragestellung über die Informationserhebung und Auswertung bis hin zur Ergebnispräsentation durchläuft. Dabei ist sein Ende, nämlich die Ergebnisse, zugleich wieder Anstoß und Ausgangspunkt für die weitere Forschung. Dies ist gerade in den Geisteswissenschaften offensichtlich, in denen die produzierte Literatur oft das Rohmaterial für die nächste Frage bildet. In den Modellen von Research Data Life Cycles ist klar, dass alle Schritte im Zyklus durch digitale Daten und Prozesse der Datenverarbeitung abgebildet werden.8 Daraus folgt die zentrale Behauptung, dass digitale Verfahren und damit auch die DH nicht nur den Bereich der Datenverarbeitung und Analyse betreffen, sondern eben alle Aspekte der Forschung. Das Phänomen der Durchdringung der Forschung durch die Digitalisierung lässt sich auch über eine vertikale und eine horizontale Sicht beschreiben.
In einer vertikalen Sicht gibt es im Forschungsprozess aufeinander aufbauende Schichten. Eine Arbeitsgruppe innerhalb des Projekts DARIAH schlug dazu mit TaDiRAH eine hierarchische Taxonomie digitaler Forschungsaktivitäten vor, mit denen diese Schritte beschrieben und weiter untergliedert werden können.9 Auf der obersten Ebene wird unterschieden:
Nr. | Titel | Meine Paraphrase |
1 | Capture | Digitalisierung, Datenerhebung aus gegebenen Objekten oder Wissensbeständen (digitale Repräsentation) |
2 | Creation | Erstellung von Daten (die nicht einfach Dinge repräsentieren) oder Anwendugen |
3 | Enrichment | Datenbearbeitung und Informationsanreicherung |
4 | Analysis | (formale) Datenanalyse |
5 | Interpretation | Modellierung, Kontextualisierung, theoretische Durchdringung |
6 | Storage | Datenspeicherung, -bereitstellung, -archivierung |
7 | Dissemination | Zusammenarbeit, Kommentierung, Verfügbarmachung, Publikation |
0 | Meta-Activities | Bewertung, Fachgemeinschaften, Projektdurchführung, Ausbildung |
Tab. 1:
TaDiRAH-Taxonomie, oberste Ebene
Vom grundsätzlichen Ansatz her soll die Taxonomie umfassend sein. Man stellt sich vor, dass es eigentlich keine Forschungsaktivitäten gebe, die nicht mit irgendwelchen digitalen Verfahren korrespondieren würden. Umgekehrt kann damit allen digitalen Ansätzen und Praktiken wiederum ein Platz in einem Forschungsprozess zugewiesen werden, den es so in den Fächern immer schon gab. Dabei sind die expliziten Forschungsaktivitäten wieder eingebettet in eine weitergehende digitale Umwelt. Deshalb geht es auch um die allgemeinen Grundlagen einer ‚computer literacy‘, die Veränderungen durch eine uns umgebende digitale Medienlandschaft und die Reflexion aller Veränderungen auf einer epistemologischen Metaebene.
In einer horizontalen Sicht finden sich auf den Schichten des Forschungsprozesses vielfältige und verschiedene Aktivitäten,