Territoriale Neuregelung Europas nach der Wiener Kongressakte (1815)
Die Funktion des Wiener Kongresses ging aber weit über die Eindämmung hinaus.
Der Wiener Kongress als erstes kollektives Entscheidungsgremium Europas
In Europa wurde mit dem Wiener KongressWiener Kongress 1815 das erste Mal eine Institution in Form eines zwischenstaatlichen Entscheidungsgremiums geschaffen, das gemeinsame Entscheidungen im Bereich der Sicherheit traf. Die fünf mächtigsten Staaten Europas (Großbritannien, Österreich, Preußen, Russland, ab 1818 Frankreich) trafen für andere Staaten des Systems kollektiv verbindliche Entscheidungen (Watson 1992: 238–250). „Die Großmächte definierten sich jetzt nicht nur als Teile eines Ganzen, sondern zusammen als das Ganze selbst. Sie sprachen sich die Ordnungsfunktion für den ganzen Kontinent zu.“ (Erbe 2004: 153) Zwischen 1815 und 1910 traf sich das europäische Mächtekonzert mehr als 30 Mal, um gesamteuropäische Belange zu regeln. Es befasste sich vor allem mit Territorialfragen, die dann zur Entscheidung kamen, sobald sie das stabilitätserhaltende Gleichgewicht in Europa gefährdeten.
Von seiner institutionellen Ausgestaltung her nahm der Wiener KongressWiener Kongress den späteren Völkerbund und die Vereinten Nationen vorweg: Der Kongress privilegierte die fünf mächtigsten Staaten des Systems (Pentarchie), sie stellten die Weltregierung. Allerdings repräsentierten sie zu diesem Zeitpunkt auch drei Viertel der Weltbevölkerung und mehr als drei Viertel der militärischen Macht (Watson 1992: 242).
Ein wichtiges Prinzip des Wiener KongressWiener Kongresses war die Verpflichtung auf anti-revolutionäre Normen als Standards für zwischenstaatliches Verhalten. Dies kam in den Prinzipien der dynastischen Legitimität und Solidarität zum Ausdruck. Notfalls durch militärische Interventionen verhindert werden sollten liberale Umsturzversuche in den Mitgliedsstaaten des Wiener Kongresses, die auf die Abschaffung der Monarchie als Regierungsform gerichtet waren. Wesentliche Triebkräfte dieser Ausrichtung waren die monarchischen Mitglieder Russland unter Zar Alexander I. und Österreich unter seinem Außenminister Fürst Metternich. Diese Norm war nicht unumstritten: Frankreich und Großbritannien waren ihre Gegner. Frankreich unterstützte ab Mitte des 19. Jahrhunderts unter Napoleon Bonaparte III. die italienischen und osteuropäischen Einigungsbestrebungen ideologisch und aus einem Interesse an der Einhegung Österreichs heraus. England sah in den innerstaatlichen Interventionen einen Verrat an den eigentlichen Zielen der heiligen Allianz, nämlich für Stabilität in Europa zu sorgen.
Verhaltensstandards
Daneben etablierte der Kongress wichtige Verhaltensstandards: Alle Beteiligten waren grundsätzlich gleichberechtigtGleichberechtigung der Mitglieder und es wurde ein möglichst fairer Ausgleich zwischen allen angestrebt, um einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten (Erbe 2004: 355). Unter ihnen sollte ein gewisses Maß an Solidarität herrschen im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung für die Aufrechterhaltung von „Ruhe und Sicherheit“ (Erbe 2004: 154). In Bezug auf Territorial- und Herrschaftsansprüche galt die Norm der Zurückhaltung. Die Verpflichtung zur Vertragstreue gegenüber den Regelungen des Wiener Kongresses bildete eine weitere Norm. Und es sollte Kooperationsgeist herrschen (Erbe 2004: 154).
Geografisch war der Wiener KongressWiener Kongress in seiner Autorität auf Europa begrenztGeografische Beschränkung der Autorität des Wiener Kongresses. Die USA erklärten 1823 mit der Monroe-Doktrin, dass der Kongress keine Autorität in den Staaten der amerikanischen Hemisphäre hätte. Mit dem Kongress von Panama (1826) entstand in Lateinamerika ein spiegelbildliches Forum, das gegen die Autorität des Wiener Kongresses gerichtet war.
Der Wiener KongressWiener Kongress stellte die bedeutendste Institution der internationalen Beziehungen des 19. Jahrhunderts dar. Er etablierte das erste kollektive Entscheidungsorgan. Mitglieder übertrugen ihm eine gemeinsame Verantwortung für die Friedenssicherung in Europa (vgl. ausführlich Erbe 2004: 150–155). Dieser Wandel war auch durch die Kriegserfahrung bedingt: Die Staatenwelt des angehenden 19. Jahrhunderts ging aus den Napoleonischen Befreiungskriegen mit dem starken Bewusstsein hervor, dass Krieg nicht mehr als normaler Bestandteil der internationalen Beziehungen zu sehen ist, sondern als etwas Gefährliches und Zerstörerisches. Napoleons Strategie der Aushebung von Massenarmeen und der Mobilisierung der Zivilbevölkerung für die Ziele der Revolution waren seit der französischen Revolution fester Bestandteil der Kriegsführung, und damit ein potentieller Destabilisierungsfaktor innerhalb der Staaten (Erbe 2004: 152). „Die Staatsführer hatten die Revolution fürchten gelernt – mehr als sie sich voreinander fürchteten.“ (Hobson 2004: 15)
Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg
Globale Trends beschreiben dynamische Prozesse und langfristige Entwicklungstendenzen, die sich anhand ihrer Auswirkungen und tiefgreifenden Veränderungen auf die internationalen Beziehungen nachvollziehen lassen. Die Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg prägten sowohl die nationalstaatliche als auch die zwischenstaatliche Ebene. | ||||
Nationalstaatnationalstaatliche Ebene | zwischenstaatliche Ebene | Zeit | Raum | |
Territoriale nationalstaatliche Expansion | Flächenstaaten entstehen | Territoriale Expansion und Ausweitung der Territorien: Vereinnahmung neuer Gebiete und VölkerGrenzkonflikte | ab Mitte 18. Jahrhundertab 19. Jahrhundert | Russland, China, USA,Frankreich unter NapoleonGroßbritannien |
Verbreitung unabhängiger Verfassungsstaaten und nationalstaatliche Einigung | Verfassungsbewegungen, innerstaatlicher Strukturwandel, Zentralisierung von Herrschaft | Herausbildung souveräner Staaten: Forderung nach nationaler Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von anderen Staaten | erste Hälfte 19. Jahrhundert | Lateinamerika,Europa(darunter nationalstaatliche Einigung in Italien und dem Deutschen Reich) |
Industrielle Revolution | Lebensweltliche Änderungen durch die Dynamisierung ökonomischer Prozesse & durch voranschreitende Industrie und Infrastruktur | Außenbeziehungen der Nationalstaaten werden durch technischen Vorsprung & Innovation geprägt: Industrialisierte Nationalstaaten nehmen Führungsrollen in der Weltpolitik ein | zweite Hälfte 19. Jahrhundert | zuerst: Großbritannien, Belgien, Deutschland, Frankreichdann:USA, Japan |
Gemeinsame Effekte der drei Trends | Geopolitischer Wandel (1860–1870): Größere strategische Bedeutung des Balkans, des Nahen und Mittleren Ostens und VorderasiensMitglieder des Wiener Kongresses treten in Konflikt miteinander | |||
KolonialisierungKolonialisierung | Nationalstaatliche Strategien der Kolonialmächte | ImperialismusImperialismus: Internationaler Wettlauf europäischer Staaten um Kolonien | ab Mitte 19. Jahrhundert | Europa,Afrika und Asien |
Die wichtigsten globalen Trendsglobale Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten