Wintertauber Tod. Urs Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Schaub
Издательство: Bookwire
Серия: Simon Tanner ermittelt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919473
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getan, als er das Motorrad dort stehen sah. Wir dachten ja alle, André sei mit dem Motorrad zu einem Freund gefahren.

      Und wieso haben Sie mir das nicht gleich gesagt?

      Solveig zitterte, und Tanner hatte das Gefühl, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.

      Er nahm ihre Hand. Sie ließ es geschehen.

      Ist es so schlimm?

      Nein, ich weiß auch nicht, was es ist. Aber erstens schäme ich mich so, wenn jemand lügt. Auch wenn es mich gar nichts angeht. Das war schon immer so. Und zweitens war ich sicher die Einzige, die das mit dem Motorrad gesehen hat. Ich habe mir versucht einzureden, dass ich es vielleicht doch nur geträumt habe. Ich will nicht diejenige sein, die ihren Patron beschuldigt.

      Und dann noch eine Spur leiser.

      André wird doch wohl nicht ihn als Teufel bezeichnet haben, oder?

      Nein, das ist schwer –

      Tanner unterbrach seinen Satz, denn der Chef des Restaurants brachte den Fischteller persönlich an den Tisch.

      Hallo, Tanner. Wie geht es dir? Mit soviel Schönheit am Tisch kann es ja nur gut gehen.

      Ja, da hast du Recht. Darf ich vorstellen: Solveig Sanders. Sie arbeitet im Service bei der Konkurrenz. Bei Marnier. Solveig, das ist Stocker. Achtung, er duzt gleich alle. Nehmen Sie es nicht persönlich.

      Freut mich, Solveig. Wenn du die Nase voll hast vom alten Marnier, dann kannst du hier arbeiten.

      Vielen Dank. Zuerst probiere ich natürlich das Essen, dann überlege ich es mir. Falls es mir schmeckt.

      Stocker lachte herzlich.

      Das gefällt mir. Keine falsche Hochachtung. Bravo, Tanner. Ich gratuliere.

      Ja, lass gut sein, Stocker. Lass uns jetzt in Ruhe essen, denn kalt schmeckt auch dein Essen nur noch halb so gut.

      Sie wünschten sich einen guten Appetit und aßen schweigend. Bis Solveig flüsternd die Stille brach.

      Er ist wirklich gut, dieser Stocker. Mutig, den Fisch mit einem Hauch dunkler Schokolade zu komponieren. Alle Achtung. Und bei aller Ausgefallenheit erscheint einem der Geschmack plötzlich absolut zwingend.

      Sie haben Recht. Es ist vor allem dieser zarte Hauch von Ingwer, der den Fisch mit der Schokolade verbindet. Der diese Verbindung überhaupt erst möglich macht.

      Vielleicht sollte ich wirklich hierher wechseln. Was meinen Sie?

      Nicht so schnell, Solveig. Sagen Sie mir zuerst, warum Sie diese Arbeit machen.

      Um Geld zu verdienen, natürlich.

      Ach, nein. Das überrascht mich jetzt aber.

      Solveig lachte und stieß ihn unter dem Tisch mit ihrem Schuh.

      Hey, Sie haben ja Humor. Das überrascht mich jetzt aber.

      Wieso?

      Im Gasthaus neulich schienen Sie so streng und zurückhaltend, vorhin im Auto auch. Außerdem sehen Sie traurig aus.

      Tanner hatte keine Lust, auf diese Bemerkung einzugehen.

      Also, warum machen Sie diese Arbeit?

      Also. Ich studiere Meeresbiologie im Hauptfach und setze ein Jahr aus, um Geld zu verdienen, wie ich bereits gesagt habe. Wollen Sie es noch genauer wissen?

      Tanner nickte.

      Mein Geld ist mir ausgegangen, weil ich … ach, egal, und mein Hauptprofessor ist für ein Jahr nach Südamerika gegangen. Da habe ich mir gedacht, ich nehme mir für ein, zwei Semester eine Auszeit und gehe in die Schweiz arbeiten. Ich habe das im Sommer schon öfter getan.

      Warum ist Ihnen das Geld ausgegangen?

      Interessiert Sie das wirklich oder ist das eine Art déformation professionelle?

      Beides. Aber es interessiert mich wirklich. Und wissen Sie warum?

      Sie schüttelte den Kopf.

      Wegen Ihres Gesichtsausdrucks, als Sie sagten: ach, egal.

      Was haben Sie denn da hineininterpretiert, Herr Kommissar?

      Eine Mischung aus Ekel, Verletztheit und Enttäuschung.

      Aha. Interessant. Und was schließen Sie daraus?

      Soll ich Ihnen das wirklich verraten? Ich hatte in jenem Moment nämlich eine schreckliche Vision.

      Heraus damit, aber wehe, Sie schummeln.

      In meiner Vision kommt Geldmangel aber nicht vor.

      Hey, das wird ja immer interessanter.

      Tanner zuckte mit den Achseln.

      Es ist leider nicht sehr originell, weil es die alte, die ewige Geschichte ist.

      Sie lachte bitter.

      Jetzt will ich’s aber wissen. Raus mit der Sprache.

      Ihr Freund hat Sie betrogen und verlassen. Und da noch niemand wusste, nicht einmal er, dass Sie schwanger sind, haben Sie heimlich abgetrieben. Dann sind Sie aus Wien geflohen, weil Sie es nicht mehr ausgehalten haben. Jetzt, da ich auch noch vom Professor weiß, der für ein Jahr nach Südamerika ging, erweitert sich meine Vision dahingehend, dass ich denke, er war derjenige, der – Solveig starrte ihn eine Weile an, dann lachte sie ziemlich laut auf.

      Oh je, oh je. Was Sie für eine Fantasie haben. Das mit dem Ekel stimmt sogar, aber aus einem ganz anderen Grund. Mein österreichischer Großvater ist vor einem halben Jahr gestorben, und darüber ist unsere halbe Familie auseinandergebrochen. Es gab schreckliche Erbschaftsstreitereien. Wirklich ekelhaft. Keine meiner Onkel und Tanten sprechen mehr miteinander. Das war wirklich schlimm. Ich hatte die Nase voll. Aber mein Gott, an was für schlimme Sachen Sie gedacht haben!

      Sie schüttelte sich, als würde sie am ganzen Leib frieren.

      Ist Ihr Leben denn so schrecklich, Tanner?

      Ja, natürlich ist es das. Ein schrecklich glückliches und schrecklich schlimmes Leben. Das ganze Spektrum.

      Zum Glück kam Stocker an den Tisch und erlöste so Tanner vor weiteren Fragen nach seinem Leben.

      Und? Wie hat es geschmeckt?

      Sein herausfordernder Blick galt Solveig.

      Gar nicht schlecht, Herr Koch. Doch. Ziemlich gut. Es lohnt sich sogar, Ihr Angebot zu überlegen. Hätten Sie denn auch ein Zimmer für mich?

      Ja. Selbstverständlich. Heißt das, du kommst?

      Geben Sie mir eine Nacht Bedenkzeit.

      Gut. Hier ist meine Karte. Ruf mich an oder verlang meine Frau. Ich lade euch jetzt zu meiner neuen Dessertkreation ein.

      Selbstverständlich sagte da keiner der beiden nein.

      Es gab Pfirsiche mit Gewürztraminersabayon und einigen Schokoladenblättern (dem Pfirsichblatt nachgebildet, versteht sich).

      Es war köstlich. Sie aßen ohne zu sprechen. Und redeten sich ein, dass sie aus Andacht vor dem Dessert schwiegen.

      Eine halbe Stunde später saßen sie wieder im Auto und fuhren – immer noch schweigend – durch den Regen, der mittlerweile ziemlich heftig eingesetzt hatte.

      Auf der pfeilgeraden Straße, die zur anderen Seeseite führte, wandte sich Solveig zu Tanner und brach die Stille. Ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren fremd.

      Würden Sie bitte einmal anhalten?

      Ja, selbstverständlich. Ist Ihnen übel, Solveig?

      Sie schüttelte den Kopf. Er hielt beim nächsten Feldweg an und stellte den Motor ab. Der Regen prasselte auf das Dach und auf die Windschutzscheibe. Sofort konnte man nicht mehr nach draußen sehen. Tanner wollte die Scheibenwischer in Gang setzen, aber Solveig verhinderte es, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Sie