Die Ursprünge der Unterscheidung reichen tief zurück in unsere Kultur. Bis zu Thomas von Aquin, dem Philosophen und Theologen aus dem 13. Jahrhundert, der von der katholischen Kirche zum Kirchenlehrer erklärte wurde und als Heiliger verehrt wird. Er hat das Konzept der sogenannten Doppelwirkung entwickelt, das hier auf die Situation eines Schwerkranken angewendet wird. Die katholische Theologie hat keine Bedenken, wenn der Arzt die Absicht hat, Schmerzen zu lindern. Wenn dabei das schmerzstillende Mittel die doppelte, also zusätzliche Wirkung hat, dass der Patient stirbt, wird das akzeptiert. Aber nur dann. Der Arzt darf also das Sterben in Kauf nehmen, nicht aber beabsichtigen. Holen Sie Thomas von Aquin hervor?
Mach ich. Später. Historisch ist die Unterscheidung nachvollziehbar, ansonsten fällt es mir schwer, die indirekte aktive Sterbehilfe moralisch der direkten überzuordnen. Auch die indirekte aktive kann etwa moralische Defizite im Gefolge haben. So habe ich es erst kürzlich erlebt. Weil der Tod bei der indirekten aktiven Sterbehilfe zu einem in Kauf genommenen Nebeneffekt wird, kann diese Art von Hilfe von dem eigentlich einschneidenden Ereignis, dem Sterben eines geliebten Menschen, ablenken. Der Sterbeprozess hat eingesetzt, der Tod wird bald da sein, und doch wird beides verdrängt, da man sich auf die schmerzlindernde Morphiumgabe, auf eine geradezu technische Handlung konzentriert. Und somit nicht auf den Abschied und die wohl wichtigste Verantwortung, also dem sterbenden Menschen nah zu sein und ihm seelisch beizustehen, so wie er es braucht.
Vor allem die deutschen Mediziner sprechen in beiden Fällen nicht von Sterbehilfe. Sie vermeiden geradezu panisch diesen Begriff, wenn sie hohe Morphiumdosen geben. In der deutschen Palliativmedizin gilt offiziell, dass man in diesem Zusammenhang nur von palliativen Maßnahmen sprechen darf.
Nun, wir Deutschen – ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen – haben tatsächlich panische Angst davor, irgendetwas zu tun, was im Entferntesten an die Zeit des Nationalsozialismus und die Hitler’schen Euthanasieprogramme erinnern könnte, bei denen systematisch Patienten ermordet wurden.
Das war ein Verbrechen. Das hat nichts mit der Frage zu tun, was für eine Person ein guter Tod sein könnte. Der Einzige, der das sagen kann, ist der Patient selbst. Und hierum geht es bei der Sterbe- und der Freitodhilfe. Um Selbstbestimmung des Sterbewilligen. Um Hilfe, wenn er sie braucht. Um Linderung eines Leidens, das er nicht mehr aushalten kann.
Ich bin immer wieder perplex, dass es in Deutschland so schwerfällt, die furchtbaren Naziverbrechen und die Sterbehilfe auseinanderzuhalten. Es kommt mir absurd vor, den Widerstand gegen die Sterbehilfe mit dem Hinweis auf die Naziverbrechen zu begründen. Da kommt doch eine irrationale Abwehrhaltung zum Ausdruck, die als Folge der heutigen medizinischen Möglichkeiten notwendig geworden ist. In der Schweiz ist die Befangenheit viel kleiner als in Deutschland. Unsere Kultur ist mehr an der Praxis orientiert. Und nicht an den Formulierungen.
Auch in der Schweiz setzen die Begrifflichkeiten klare Grenzen. Direkte aktive Sterbehilfe, die gezielte, vorsätzliche Verabreichung einer Spritze, die zum Tod führt, ist durch das Strafgesetzbuch verboten. Ich frage mich, ob es nicht nur eine Sache der Konsequenz, des Realismus und wohl auch Mutes ist, einen Schritt weiterzugehen und auch die direkte aktive Sterbehilfe, ungeachtet der höheren psychologischen Hürde auch hier, moralisch und rechtlich mit den anderen Formen der Sterbehilfe gleichzusetzen.
Die Grenzen sind in der Praxis ohnehin fließend. Das sagen gerade die Intensivmediziner, die Tag für Tag mit dieser Situation konfrontiert sind. Es gibt einen breiten Graubereich, in dem zwischen palliativer Sedierung und aktiver Sterbehilfe nur mit viel Haarspalterei zu unterscheiden ist. So habe ich oft von Medizinern gehört, dass sie auch das Einstellen einer lebenserhaltenden Maßnahme als eine aktive Handlung und so gesehen als aktive Sterbehilfe empfinden.
Anfänglich war ja die aktive Sterbehilfe auf Wunsch das Ziel der Gründer von Exit. Doch die Politik zog nicht mit, auch wenn die Volksabstimmung von 1977 eine breite Akzeptanz zumindest der Zürcher Stimmbürger zeigte. Exit nahm daher schon 1984, im zweiten Jahr nach der Gründung, von der aktiven Sterbehilfe Abstand und bietet seither ausschließlich etwas an, was bisher nicht diskutiert worden war: die Hilfe beim Freitod …
… bei der entscheidend ist, dass der Sterbewillige entweder eigenhändig das Sterbemittel trinkt oder eigenhändig den Infusionshahn öffnet. Und nicht Dritte. Weder Ärzte noch Angehörige.
Was ist, wenn ein Patient nicht mehr die Kraft oder Bewegungskontrolle dafür hat?
Hier müssen wir improvisieren, denn sonst eröffnet die Staatsanwaltschaft ein Verfahren. Einmal passierte es, dass die Finger eines Patienten an dem Tag, an dem er sterben wollte, nicht mehr beweglich genug waren, um den Infusionshahn zu bedienen. Also verbogen wir eine Büroklammer so, dass wir sie am Infusionshahn befestigen konnten. Dann verbanden wir sie mit einer Schnur, die wir dem Patienten in die Hand gaben. Er zog – das konnte er noch –, und der Hahn öffnete sich. Somit war es der Patient, nicht wir, der den letzten Akt vollzog, der dann zu seinem Sterben führte. Die Juristen nennen das Tatherrschaft.
Später habe ich diese Verfahren Dr. Brunner vorgeführt, dem damaligen Leitenden Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich. Wir trafen uns regelmäßig, um die Möglichkeiten von Exit auszuloten. Er stimmte zu, dass dieses Verfahren noch im Rahmen der Legalität sei. Doch er war äußerst vorsichtig und empfahl, zukünftig doch bitte zwei Büroklammern zu verwenden. Bei nur einer sei das Risiko zu groß, dass der Patient durch seine Nervosität den Hahn versehentlich öffne. Und ein Versehen ist keine Tatherrschaft. Seither verwenden wir in diesen Notsituationen also zwei Büroklammern.
Klingt nach rechter Trickserei. Was ist, wenn die zwei Büroklammern in einer solchen Situation zu viel Widerstand leisten? Wenn Sie dann eine wegnehmen und der Patient es nochmals versucht? Wiederum vergeblich? Wie gehen Sie dann mit der Tatherrschaft um?
Wenn etwa ein Patient mit einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems wie der amyotrophen Lateralsklerose die Fingerfertigkeit nicht mehr hat, dann können wir inzwischen riskieren, den Hahn für ihn zu öffnen aufgrund eines Gutachtens des Basler Juristen Daniel Häring. Er schreibt: «Über das ‹Ob› und ‹Wie› der Tat bestimmt ein Mensch beim Beizug einer professionellen Suizidhilfeorganisation auch dann, wenn er das zu seinem Tod führende Geschehen initiiert und durch klare Anweisungen an den Sterbehelfer, ohne dass diesem bei der Umsetzung ein großer Ermessensspielraum zukommt, vollständig selbst gestaltet.»18
Wissen Sie, all diese Unterscheidungen – passiv, indirekt aktiv, direkt aktiv, assistiert – sind Sprachwasch.
Sprachwasch?
Würden sie mich zu den älteren Leuten zählen?
Durchaus.
Das ist Sprachwasch.
Aha … Gut, dann zähle ich Sie zu den alten Männern. Auch wenn es mir recht unhöflich, geradezu respektlos vorkommt, so von Ihnen zu sprechen.
Sprechen Sie von mir als sehr altem Mann, bitte!
Okay. Ich versuch’s. Mal sehen. Und bald dann vom uralten Mann?
Ja, bald. Bald bin ich hochbetagt, hochaltrig, uralt. Aber erst, wenn ich neunzig bin.
Thomas von Aquin: Gott ist es, der tötet und lebendig macht
«Das Leben ist ein Geschenk Gottes und Gottes Macht unterworfen, der da tötet und lebendig macht», so schreibt Thomas von Aquin in seinem Hauptwerk «Summa theologica», zu Deutsch «Hauptinhalt der Theologie».19 In diesem voluminösen Werk nimmt er sich nichts anderes vor, als Anfängern, die die Lehre der katholischen Wahrheit nicht kennen, «kurz und klar» alles darzulegen, was zu dieser gehöre. Und somit auch das Selbstmordverbot von Augustinus.
Thomas