In Ländern mit mehrheitlich katholischer Bevölkerung und einer gehorsamen Priesterschaft wird dieser Text eine enorme Wirkung entfalten. Aber nicht nur im Blick auf den assistierten Suizid, sondern auch auf andere Formen der Sterbehilfe. Ich denke an Heime und Kliniken, die von der katholischen Kirche geführt werden. Die autoritär verordnete Verweigerung der Sterbesakramente im Falle eines assistierten Suizids trifft nicht wenige katholisch erzogene Menschen mitten ins Herz. Das mag auch für solche gelten, die sich von der Kirche gelöst haben. Auch katholisch-gläubig gebliebene Angehörige werden sich mit Energie gegen einen assistierten Suizid zur Wehr setzen, wenn sie wissen, dass der Priester die Sterbesakramente nicht erteilen und der Gläubige die Krankensalbung nicht empfangen darf. Lesen Sie nur diesen Abschnitt hier aus dem vatikanischen Schreiben. Es geht um diejenigen, die ausdrücklich eine Sterbehilfeorganisation um assistierten Suizid gebeten haben. Diese sollen nur dann die Sakramente erhalten, wenn sie ihre Entscheidung ändern, somit zum «Büßer» werden, wie es heißt:
«In Bezug auf das Sakrament der Buße und Versöhnung muss der Beichtvater sich vergewissern, dass es Reue gibt, die für die Gültigkeit der Lossprechung notwendig ist, und die als ein ‹Schmerz der Seele und ein Abscheu über die begangene Sünde, mit dem Vorsatz, fernerhin nicht mehr zu sündigen› charakterisiert wird.»
Auch ohne die explizite Drohung mit dem ewigen Feuer wird hier am dogmatischen Fundament der römisch-katholischen Kirche weitergemauert und somit eine brutale Härte gegenüber leidenden Menschen an den Tag gelegt.
Von der gesamten Schweizer Wohnbevölkerung waren 2018 knapp 40 Prozent Mitglied der römisch-katholischen und knapp 25 Prozent der evangelisch-reformierten Kirche.
Unterschätzen Sie auch daher nicht, wie einflussreich die Haltung der katholischen Kirche zur Freitodhilfe weiterhin ist. Ein Beispiel vom vergangenen Jahr: Im Wallis wurde diskutiert, ob in öffentlichen Altersheimen, die vom Staat mitfinanziert werden, der assistierte Suizid zugelassen werden darf. Der Pfarrer Paul Martone nahm in einer Pressekonferenz in Sitten dazu Stellung. Die katholische Kirche respektiere den begleiteten Suizid, könne ihn jedoch nicht gutheißen. Das ist eine recht jesuitisch-raffinierte Aussage. Im Hinblick auf die hohe Akzeptanz der Suizidhilfe in der Schweizer Bevölkerung und zugleich unter Berücksichtigung der kirchlichen Obrigkeit stellt Pfarrer Paul Martone beide Parteien ein bisschen, wenn auch nicht ganz, zufrieden. Der Walliser Bischof Jean-Marie Lovey war da eindeutiger und sagte, dass der Wunsch nach Beihilfe zum Suizid weit davon entfernt sei, Ausdruck der Selbstbestimmung des Menschen zu sein: «Die Beihilfe zum Suizid ist ein schwerer Angriff auf das Leben des Menschen, das die christliche Botschaft von seiner Empfängnis bis zum natürlichen Tod schützen will.»25
Bei den Protestanten klingt es vergleichsweise moderat, Sie würden wohl sagen jesuitisch: In einer Vernehmlassungsantwort des Kirchenrats des Kantons Zürich von 2010 heißt es etwa, dass er die Beihilfe zum Suizid im Grundsatz für «äußerst problematisch» halte, dass er aber «Suizid und die Beihilfe dazu, die aus innerer Not geschehen», nicht verurteile.26
Doch in dem Dokument steht auch die Forderung, «bei den Leidenden auszuharren» und «Geborgenheitsräume zu schaffen, die ihr Leiden lindern». Aus Sicht des Zürcher Kirchenrats geschieht das offenbar zu wenig, und daher sieht er hier ein Versagen der Gesellschaft. Nach meiner Meinung verkennt er unsere hervorragenden Pflegeeinrichtungen, die genau das bieten, was sich der Kirchenrat als Geborgenheitsraum vorstellt. Er übersieht auch den vorbildlichen Einsatz der Angehörigen, die Leidende pflegen. Aber er verkennt noch viel mehr: Das Leiden kann trotz bester Fürsorge eine solche Dramatik annehmen, dass manchen Menschen allein mit Geborgenheitsräumen nicht geholfen ist. Ich werte diese Stellungnahme der Kirche daher als eine Verharmlosung des Leidens.
Exit hat inzwischen über 135 000 Mitglieder. Dies lässt vermuten, dass darunter auch eine stattliche Anzahl Mitglieder der Landeskirchen zu finden sein müssen. Doch selbst wenn dies als Liberalisierungsschritt gelesen werden kann, selbst wenn die Säkularisierung immer weiter voranschreitet, stecken in unseren Köpfen und Herzen weiterhin religiöse Überlieferungen, die rational überwunden scheinen, in den Gefühlen aber tief verankert sind.
Einst begleitete ich eine fast hundertjährige Dame in den Tod, deutsch-lutherisch aufgewachsen und in diesem Sinne gläubig geblieben.
Sie fragte mich: «Herr Pfarrer, ist Gott einverstanden?»
Ich antworte: «Ja.» Und legte ihr die Hand auf den Kopf.
Sie fragte nochmals: «Herr Pfarrer, ist Gott einverstanden?»
Ich antwortete wieder: «Ja, Gott ist einverstanden.»
Nachdem sie ein weiteres Mal gefragt und ich wieder dasselbe geantwortet hatte, sagte sie: «Jetzt glaube ich es. Gott ist einverstanden.» Und sie trank das Sterbemittel.
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