Schattenblüten. Alberto Nessi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alberto Nessi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038550488
Скачать книгу
werden ich und Angelo den Aufstand anführen.

      Die Bullen im Dienst der Unternehmer. Manchmal tun sie mir allerdings auch Leid, wie der, der vor ein paar Tagen hereinkam, mit einem halb traurigen, halb gleichgültigen Gesicht und stark vorstehenden Augen. Ich habe mit ihm zu reden angefangen, und er gab mir sogar Recht und er tat mir ein bisschen Leid, auch sie haben mörderische Dienstzeiten. Dann hat er den Kaffeerahm-Deckel genommen und ihn sorgsam in seinem Portemonnaie verstaut, für seine Tochter, die so was sammelt.

      Der Chef der Bar und der Tankstelle ist einer, der frühmorgens herkommt, einen Café crème trinkt und die Autos zählt, die auf der Autobahn vorbeifahren, er betet zum Herrgott, dass er ihm eine schöne Menge dröhnender Autos vorbeischickte. Die Autos sind sein Leben. Insgeheim jedoch ist er in Züge verliebt. Er hat eine tolle Spielzeugeisenbahn in seiner Villa «Mio sogno» oben auf dem Hügel, Miniaturlokomotiven, die einen Haufen Geld kosten, und wenn er nicht hier ist, um die Autos zu zählen, sitzt er ganz brav in seinem Wohnzimmer und schaut den Zügen zu, die am Bahnübergang halten, in die Tunnels einfahren, an den Weichen die Gleise wechseln und glücklich zwischen kleinen Seen und Bäumchen dahinfahren wie im Swissminiatur. Aber wenn ich aus Kuba zurückkomme, wird die Villa des Chefs in eine öffentliche Anlage mit Enten im Teich verwandelt, der Chef macht seine Schichten an der Tankstelle wie die anderen, und alle Kinder dürfen mit der Eisenbahn spielen, auch Angelos Tochter.

      Keine Rechte. «Wenn du willst, ist es so, sonst kannst du ja gehen.» Und die Gewerkschaften schweigen, gehen mit dem Besitzer Eisenbahn spielen. Hier gibt es einen Haufen Arbeislose, die Angelos Stelle sofort nehmen würden. Aber er hat eine zehnjährige Tochter zu Hause, ein scheues Mädchen, die Mutter ist auf und davon, und er lebt jetzt allein mit dieser Tochter, die Silvana heisst, und in der Schule sagen sie Silvana, die Nutte, zu ihr, weil die Welt böse ist. Es gab zwar eine Nachbarin, eine Sechzigjährige, die kam und half Angelo und Silvana ein bisschen im Haushalt, aber jetzt hat sie einen Kerl gefunden, und plötzlich ist die Alte wieder jung geworden, hat angefangen sich zu schminken wie meine Mathelehrerin und lässt sich nicht mehr blicken. Silvanas Onkel ist gestorben, ihr Freund ist an einem Tumor gestorben, der Grossvater ist gestorben, die Grossmutter ist gestorben, sogar der Hund ist gestorben, Silvana ist allein geblieben und geht am Samstagabend mit ihrem Vater Angelo Walzer und Tango tanzen, um all diese Toten zu vergessen.

      Er erzählt mir alles, der Angelo. Einmal ist er zum Chef gegangen, um zu fragen, ob er in der Zeit, in der auch seine Tochter Ferien hat, Urlaub nehmen kann, um ein bisschen mit ihr zusammen zu sein, aber der Chef hat zu ihm gesagt, wenn es ihm so passt, wie es ist, gut, sonst kann er ja gehen. Kurzum, die Unternehmerphilosophie. Aber auch die anderen im Dorf sind böse, sagt Angelo. Sie schauen ihn schief an, weil er getrennt lebt.

      Wenn ich mit meinem Nachtfaltergeflatter um den Tresen fertig bin, kommen mir die Füchse entgegen hier auf dem Weg, der mich nach Hause führt: Da ist die Frau – die ehrbare Signora nennt Angelo sie –, die sich morgens im Motel mit ihrem Liebsten trifft; da ist die Kassiererin, die meiner Tante ähnlich sieht und nie lächelt, da ist diese gemeine Ziege, die sich als Chefin aufspielt und heute Mariangela zum Weinen gebracht hat, da ist der Typ im blauen Anzug, der einen Café crème bestellt und dann zu dir sagt, du sollst seinen draussen geparkten Mercedes anschauen, und dich fragt, ob du mit ihm abendessen gehst; da ist der schweigsame Taxifahrer, der am Spielautomaten sein Glück versucht, da ist die Putzfrau, die die Zimmer im Motel sauber macht und Gretel heisst. Gretel ist eine grosse, dicke Frau, die einen Haufen Unglück gehabt hat, aber sie erzählt es mit einem Akzent, der mich zum Lachen bringt. Erst hat sie mit dem Auto ihren Sohn angefahren, so eine Schnittwunde am Kopf. Dann ist sie beinahe in Flammen aufgegangen: sie stand mit der verdammten Alkoholflasche da neben dem Kamin, und plötzlich hat sie Feuer gefangen, Verbrennung dritten Grades, ihr Sohn nur zweiten Grades, zum Glück ist sie dick, und ihr Fettpolster am Bauch hat sie gerettet, sie hat mir die Katastrophe gezeigt, sie würde schon gern noch mit einem Mann gehen, aber sie schämt sich, so verbrannt, wie sie ist.

      Dann gibt es noch die, die stehlen. Sie kommen rein, womöglich distinguierte Herren in Jacke und Krawatte, gehen an den Regalen mit den Waren entlang und lassen stangenweise Zigaretten im Regenmantel verschwinden. Und es gibt die, die dich beim Wechseln betrügen und dir falsche Schecks unterschieben, und dann musst du zahlen, die, die volltanken und dann abhauen, und einmal ist der Tankwart aus seiner Kabine gelaufen, um die Nummer des davonrasenden Autos zu sehen, aber in dem Augenblick ist einer zur Kasse gegangen und hat ihm sechstausend Franken geklaut: sobald du dich hier aus dem Käfig wegrührst, wird dir übel mitgespielt.

      Wenn die Schicht zu Ende ist und ich dieses dunkle Strässchen entlanggehe, wo ich allein auch Angst habe und es mir immer so scheint, als wäre einer im Gebüsch versteckt und wartete auf mich, dann kommen mich die Füchse besuchen, die Nachtgedanken.

      Einer sagt, man muss eine Revolution machen, um die Menschen zu verändern. Aber wie kann man das Böse auf der Erde zum Verschwinden bringen? Und die Narbe auf Gretels Bauch? Und die Tränen des kleinen Mädchens, zu dem die Schulkameraden Nutte sagen? Und die Deutschen, die Cappuccino bestellen nach dem «Hallo» und dich hinter dem Tresen anstarren, während du ihnen nicht ausweichen kannst, weil du dort eingesperrt bist wie in einem Schaufenster?

      Da sind diese hungrigen Füchse, die mir entgegenkommen, wenn ich durch die dunklen Weinberge nach Hause gehe, ich höre eine vergessene Glocke auf der Wiese, und aus der Tiefe weht der gelbliche Atem der Autobahn herauf, alle Trauben haben die Farbe der Nacht, und auch ich bin ein Fuchs, pflücke eine Traube und nehme sie mit nach Hause: Denn man muss denen nehmen, die haben, um denen zu geben, die nichts haben.

      Skorpionschritt

      Heute Morgen dachte ich: der Herbst, die violetten Büschel des Tausendgüldenkrauts, die mir auf meinem Weg ins Büro entgegenkommen, die Wiesen, plötzlich konkreter, nicht mehr verloren im metaphysischen Gesumm des Sommers, in seiner Illusion von Ewigkeit. Die Grüntöne, aufmerksamer und ausgeprägter geworden: lauschend. Die Aster, die sich am Schuppen eines Gemüsegartens vorbeugt, die Glockenblumen auf den sonnenbeschienenen Tischchen der Bar, Apollinaires giftige Herbstzeitlose, «et souviens-toi que je tʼattends» … Und die vier Kühe, vergessen in der Grasmulde zu Füssen der «schlüsselfertigen» Häuschen, scheinen unsicher zu sein, was sie tun sollen, während ihre Glocken ein unmögliches Heimweh beschwören.

      Die violette Atmosphäre am Morgen; «Besser vorübergehend hier sein als ständig dort», sagt Tobia, der mit seinem Herzschrittmacher in der Brust in Richtung Mendrisio wandert, auf demselben Feldweg wie ich. Er hat den breitbeinigen Gang dessen, der früher den Pflug auf den Feldern gelenkt hat, und wenn du ihn etwas länger ansiehst, fängt er an, dir von damals zu erzählen, als er aus der Bergamasker Gegend aufbrach …

      Besser vorübergehend hier, gewiss. In diesem Licht einer reifenden Frucht. Aber irgendwo verbirgt sich ein staubfarbener Skorpion zwischen den Grashalmen. Das fühle ich. Er ist immer da, auch am schönsten Morgen, ein Gedanke, der seinen Widerhaken ausstreckt, ein Gewissensbiss, der hochkommt, ein Schatten, der unter den Steinen versteckt lauert wie jenes Tier, bereit, den Stachel zu zücken, wenn die Kraft der Sonne nachlässt und den Wirren der Nacht Platz macht.

      Ich warte auf den Ölwechsel. Jedesmal, wenn ich in diese Werkstatt komme, sagt der Vendeur, dass meine Haltung schwachsinnig sei, das Auto müsse ich wechseln, denn der Kilometerzähler zeigt hunderttau­send an, und die Karosserie weist mehr als eine Delle auf. Er preist die Grossartigkeit des neuen Modells an, zahlt mir ein Glas Weissen mit Campari. Sein Chef beklagt sich, dass heute alle auf den Verkehr schimpfen:

      «Es wächst doch noch Gras auf den Wiesen, nicht wahr? Nie so viel Grün gesehen wie um meine Werkstatt herum.»

      Hier, in der Bar, in der ich die Zeitungen durchblättere, spricht ein Privatsender über Induno Olona, über Kinderwägen, Buggies, Bonbonnieren, elektrische Insekten-Killer, Ausverkauf an der Autobahn-Ausfahrt, während draussen das Ozon über der Ebene lastet, die Benzinpumpen arbeiten und unablässig die Lastwagen rollen.

      Ein Mann im Unterhemd kommt herein. Er setzt sich an einen Tisch und kommentiert das Rennen vom Sonntag, die «Gazzetta dello Sport» vor sich aufgeschlagen.

      «Siebenunddreissig Sekunden», murmelt er kopfschüttelnd und bezieht sich, glaube