«Die Ungerechtigkeiten nehmen kein Ende», sagt sie.
«Das weiss man. Du hast ganz Recht, Kommunistin zu sein. Aber die Leute sterben trotzdem», philosophiere ich.
Sie sieht mich an und sucht meinen Blick.
«Das ist kein Grund, alles aufzugeben. Du hast verraten, hast auch aufgegeben.»
«Ich? Ich bin schwermütig geworden.»
Wir bestellen noch ein Bier, und plötzlich kommt mir jener Nachmittag in der Osteria wieder in den Sinn. Die Tapete fällt mir wieder ein und Lella, die am Tisch sitzt, mit den an Haken hängenden Zeitungen in einer Ecke. Sie hatte ihr Tagebuch herausgezogen an jenem Nachmittag und die Seite vorgelesen, auf der stand: «Ich habe Angst, dass sich niemand an mich erinnert, an die Sätze, die ich gesagt habe.» Es herrschte ein besonderes Licht – unmöglich, dass es keine Spuren hinterlassen hat, jenes Licht, ein bisschen wie damals, als ich sie in den Schnee mitgenommen hatte. An jenem Nachmittag fühlte ich, dass etwas geschehen konnte. So werde ich mich an sie erinnern: mit dem Gesicht vor den blauen Blumen der Tapete. «Das Mädchen mit den blauen Blumen.» Und während die Frau am Tresen uns beobachtete, kam mit dem Licht das Versprechen auf Glück herein. Vielleicht besteht der Trick zu leben darin, in den Augen das Licht eines Tages zu bewahren, an dem man gespürt hat, dass man glücklich sein konnte. Aber wie aufgedunsen sie jetzt ist. Und wie wird sie mich in Erinnerung behalten? In meinem quer gestreiften Fussballtrikot?
«Ich habe gelernt, nur die zu lieben, die mir nahe stehen», sage ich. «Dieses Licht, das am Himmel verlöscht und nicht wiederkehrt. Du bist noch in der Ideologie befangen.»
«Du bist zur anderen Seite übergelaufen», sagt sie.
«Was heisst das? Zur anderen Seite übergelaufen sind die, die so tun, als gebe es keinen Schmerz.»
Ich sehe sie wieder in der Osteria im Licht, das durch die Vorhänge hereinfällt. Warum hat sie zu trinken angefangen? Warum hat sie versucht, sich umzubringen? Da sind wir und zertrampeln die Oktoberblätter vor den erstarrten Pferden.
«Man verbringt das Leben damit, Dinge tun zu wollen», sagt sie, ihrer alten Begeisterung nachhängend.
«Ich bin zum Beobachter geworden», sage ich. «Anstatt Dinge zu tun, betrachte ich sie.»
«Ich hab es ja gesagt, du bist zur anderen Seite übergelaufen.»
«Anstatt etwas zu tun, sage ich es mir innerlich vor. Ich spreche mehr zu mir selbst als zu den anderen. Manchmal kommen die anderen mir vor wie verblasste Schilder. Damit sie wieder lebendig werden, muss ich mir innerlich von ihnen erzählen. Denkst du nie an die Gefährten von damals?»
«Sie verändern sich. Ab und zu kommt ein Maler vorbei und überstreicht das alte Schild mit Barytweiss. Aber erzähl mir von denen, die in dir leben.»
«Die, die unter den grossen Zweigen der Zeder vor der Grundschule vorbeigingen. Weisst du noch? Da muss auch Yuri Gagarin in seiner Kapsel vorbeigekommen sein, als du noch unterrichtet hast.»
Ab und zu fallen sie mir wieder ein, die Schulkameraden. Das Leben hat sie entstellt. Rico zum Beispiel kommt mir in den Sinn: in der Turnhalle machte er im Schwung Handstand auf dem Barren und sah uns lächelnd an, dann rieb er sich die Handflächen mit Magnesium ein und setzte zur doppelten Riesenfelge am Reck an mit diesen langen weissen Hosen, die nur die «Aktiven» trugen.
«Du bist alt geworden, wie Nick. Du lebst von Erinnerungen.»
«Ich versuche zuzuhören, von den anderen zu lernen. Ich erzähle dir etwas. Kürzlich sass im Bus nach Como ein alter Mann mit gefärbten Haaren, der Selbstgespräche führte. Er murrte über das Personal, das seine Pflicht nicht ordentlich tut. Du weisst schon, diese übergeschnappten Einzelgänger, die im Alter vor sich hin schimpfen. An einem bestimmten Punkt ist der Fahrer – wer weiss, wie oft er ihn schon gesehen hat – sauer geworden und hat gedroht, ihn aus dem Bus zu werfen. Wirklich unverhältnismässig. Da hat der Alte ihm tief in die Augen geschaut und gesagt: «Danke Gott, dass ich ein Boxer in Pension bin. Ich kann dich nicht anrühren.»
Der Oktober treibt weiter Blätter auf dem Platz zusammen, Lella lacht. Alle anderen sind gegangen.
«Man muss aufhören zu beobachten, etwas nur tun zu wollen. Man muss es tun», sagt sie.
«Da gab es nichts zu tun. Es war ein einsamer alter Mann, der sich tröstete. Aber man kann etwas daraus lernen: ‹Danke Gott, dass ich dich nicht anrühren kann …›»
Ich betrachte die aufgedunsene Lella. Sie redet wie in alten Zeiten. Aber sie sammelt jetzt Nippes, nicht mehr die Fotos von Gagarin. Ein besiegter Boxer auch sie, genau wie ich und wie Nick, vom Herbstwind geschüttelt.
Die Stunde der Füchse
für Antonia
Auf dem Weg kommen mir alle diese Füchse entgegen, wenn ich meine Schicht in der Raststätte beende und allein nach Hause gehe. Es ist schon Nacht, eine kranke Helligkeit steigt von der Autobahn herauf, und von der Wiese hier in der Nähe tönt der Klang einer Glocke herüber: eine Ziege, eine verirrte Kuh, ein Engel, der sich im Septembernebel verlaufen hat, wer weiss. Dann tauchen auf der Schwelle zur Nacht die Füchse auf.
Begonnen habe ich meinen Dienst an einem schönen, azurblauen Nachmittag, einem Nachmittag mit dem Kastanienbaum vor dem Himmel, würde der Dichter sagen, den ich im Juni an der Matura behandelt habe: während die stachelige Schale auf die Wiese fiel und eine lachende Kastanie heraussprang, stand ich dort hinter der Theke. Wie ein Nachtfalter, ging es mir vor einigen Tagen durch den Kopf, ein Nachtfalter, der sinnlos um die Lampe flattert. So bewege ich mich hinter der Theke der Autobar und serviere Café crème und Cappuccini.
Der König der Autobahn ist der Café crème, hat Angelo gesagt. Und die Deutschen mögen Cappuccino so gern. Diese Deutschen mit dem Kassenbon in der Hand, die «Hallo» sagen oder mit der Faust auf den Tresen schlagen. Manchmal, wenn ganze Reisebusse kommen und man nicht mehr weiss, wo man anfangen soll, muss ich lachen.
Ich lache, um nicht zu weinen. Zum Glück ist Angelo da, der mir hilft. Er ist ein Proletarier und durchschaut die Lage immer sofort, er macht mir ein warmes Brötchen mit Nutella, und kürzlich, als wir am Abend von der Raststätte weggingen, hat er mir eine Traube gepflückt und mit den Worten überreicht, dass man von denen nehmen müsse, die haben, um denen zu geben, die nichts haben, er muss das Evangelium, das Kapital oder etwas Ähnliches gelesen haben, der Angelo. Ich habe mich gefühlt wie einer dieser Füchse, die um diese Stunde durch die Weinberge streichen.
Aber wir werden eine Revolution machen, ich und Angelo. Jetzt bleibe ich einen Monat hier, verdiene mir Geld, um nach Kuba zu fahren, und dort kaufe ich mir dann eine Baskenmütze mit dem Stern des Che und lerne Revolution machen, und wenn ich zurückkomme, werden wir den Aufstand der Tankwarte, der Verkäuferinnen, Putzfrauen und Kellner der Raststätte anführen. Die in den Schliessfächern der Banken versteckten Schmuckstücke werden wir beschlagnahmen, und auf der Autobar wird die Fahne des pueblo unido wehen.
Vor ein paar Tagen ist ein griechischer Lastwagenfahrer hereingekommen, der nur Griechisch sprach, er wollte ein Bier, aber wir verkaufen keinen Alkohol, also habe ich ihm ein alkoholfreies Bier gegeben, er war ein bisschen enttäuscht, und nur so, um ihn zu trösten, habe ich das einzige griechische Wort zu ihm gesagt, das ich kenne: ouzo. Der Grieche ist zu seinem Lastwagen gegangen, hat ein Fläschchen Ouzo geholt und es mir geschenkt, es gibt doch gute Menschen auf der Welt. Angelo dagegen sagt, dass alle böse sind.
Wenn er das sagt, wird er gute Gründe dafür haben. Er ist ein Grenzgänger, einer ohne Rechte, denn die Gewerkschaften halten zu den Unternehmern, sagt er. Hier in der Autobar, zum Beispiel, kommen die Bullen rein und trinken etwas, ohne zu bezahlen, essen ein Brötchen, ohne zu bezahlen, es besteht eine Abmachung zwischen dem Chef und den Polizisten, jedes Jahr lädt der Chef sie zum Abendessen ein, sie mögen sich. Auch die Männer, die auf der Autobahn arbeiten, die mit den orangefarbenen Anzügen, können hier umsonst essen, aber kürzlich ist ein Kroate hereingekommen und hat einen Kaffee getrunken, aber sein Brötchen wollte er bezahlen. Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass