Die Liebesbeziehung der beiden ist stürmisch und jenseits bürgerlicher Konventionen. Doch auf Dauer setzt sich das »typisch Weibliche« durch: Yvonne erträgt das »Ewig-Unsichere« nicht. Sie will ein Kind, will ein Heim, will Sicherheit, will die Ehe mit einem Mann, der für sie sorgt. All das kann und will Jürg nicht. Darum verläßt sie ihn und heiratet Hauswirt (nomen est omen), einen »breitschultrigen, gelassenen, unerbittlichen« Industriellen, vor dem die Arbeiter dastehen wie dumme Jungs. Hauswirt ist der »echte« Mann, der nicht Rätsel löst, sondern zupackt. Hauswirt erobert Yvonne und wird unwissend zum Vater des Kindes, das diese noch von Jürg empfangen hatte. Fazit: Die zweite Variante: Bürgerin lebt in freier Liebe mit Künstler, scheitert ebenfalls.223
Ist aber Yvonnes Ehe mit Hauswirt die Lösung? Yvonne »ging den gleichen Weg, den sie ihrer Mutter nie hatte verzeihen wollen: sie heiratete den Mann, der sicher für sie sorgen konnte …«, ohne ihn wirklich zu lieben.224 Reichlich skeptisch klingt das Lob der Ehe im Roman durch den eben frisch verheirateten Roman-Autor: »Ein Wunderbares ist es um die Ehe. Sie ist möglich, sobald man nichts Unmögliches von ihr fordert, sobald man über den Wahn hinauswächst, man könne sich verstehen, müsse sich verstehen; sobald man aufhört, die Ehe anzusehen als ein Mittel wider die Einsamkeit. Dort liegt das Unmögliche! Sobald man ein Gefühl davon gewinnt, daß die Ehe einfach ein Dienst ist, ein Verfahren fürs tägliche Leben.«225 Kant hatte Klartext gesprochen, als er die Ehe einen lebenslänglichen Vertrag zur wechselseitigen Benutzung der Geschlechtsorgane nannte. Auch die bürgerliche Ehe scheint keine befriedigende Lösung zu bieten.
Der dritte Romanteil – J'adore ce qui me brûle oder die Entdeckung – probiert einen vierten Weg aus: Der Künstler ist ein Angestellter geworden und will nun Hortense, eine Tochter aus dem Großbürgertum, heiraten. Der Bezug zur eigenen Situation liegt nahe. Jürg hatte, nicht anders als Frisch, nach »neun Jahren, die sich als Irrtum erwiesen«,226 seine Bilder im Wald verbrannt und eine Anstellung als Zeichner in einem Architekturbüro angenommen. Zufällig begegnet er Hortense, die Jahre zuvor seine Malschülerin und heimliche Verehrerin gewesen war. Vergeblich versucht Jürg ihr klar zu machen, daß jene jugendbewegten Zeiten vorbei sind. »Was bin ich denn? Ein Mann von dreißig Jahren, der just sein eigenes Brot verdient. Hälfte des Lebens, Menschenskind, Hälfte des Lebens! Wann wird man denn endlich erwachen und aufstehen? … Wann fängt es denn an, das wirkliche, das sinnvolle Leben?«227
Hortense will nach Paris, will mit Jürg ein freies Bohème-Leben führen. Doch Jürg denkt inzwischen bürgerlich über die Ehe: »Das größte Abenteuer …, das es einzugehen gibt, schien ihm die Ehe, das Wagnis einer ganzen Bindung, Verpflichtung an ein Rätsel, das uns überdauert.«228 Er macht Hortense einen Heiratsantrag, sie zögert. Ihr Vater, Armeeoberst, Gutsbesitzer, Patrizier (man ist an Constances Vater erinnert), widersetzt sich der Mésalliance, indem er rassische Bedenken vorbringt: Jeder Hundeliebhaber vermeide aus Hochschätzung vor der Rasse einen Bastard. Auch die Menschen hätten »ein eingeborenes … Reinlichkeitsbedürfnis gegenüber eignem Wesen, umso stärker und gesünder und reiner dieses Wesen ist. Stolz ist eine Art von seelischem Geruchssinn … Man riecht, was nicht zu uns gehört«.229
Bei der Unterredung mit Hortenses Vater erfährt Jürg, daß er in Wahrheit ein adoptiertes, uneheliches Kind ist. Die leibliche Mutter sei Kinderfräulein im Gut des Obersts, der Vater ein Metzgerbursche gewesen. Jürg bricht zusammen. Er erkennt: »Nicht alles Mögliche ist uns möglich, wie es der Jüngling noch meint. Schon vor der Geburt ist uns das meiste genommen, verborgen, zerbrochen, verschüttet.«230
Das sind deutliche Zurücknahmen der Positionen des jungen Jürg Reinhart, zugleich kritische Zugewinne an Einsicht in die Denkungsart und den sozialen »Geruchssinn« der guten Gesellschaft. Alle Varianten sind nun durchgespielt, und alle Varianten sind gescheitert – auch die, die der frischgebackene Architekt, Ehemann und
Schriftsteller gerade selber zu leben versucht!
Jürg Reinhart verfällt dem Wahnsinn. Im Irrenhaus lernt er den Gärtnerberuf und arbeitet, wieder genesen, im vierten Teil des Romans unter dem Namen Anton als Gärtner. Er ist weise geworden, die Kinder lieben ihn. Er erinnert an Voltaires Altersmaxime »Il faut cultiver son jardin« aus dem Candide. In einer bedeutungsschwangeren Gewitternacht treffen Hortense und Anton zufällig aufeinander. Doch man findet sich nicht mehr im nächtlichen Gespräch. Anton ist verbittert: »Als bankrotter Künstler, dem eines Tages der Boden unter den Füßen versank, hatte er ein Menschtum, das sich lohnt, einmal im Bürgertum gesucht; der Bürger glaubt ja … an seine höhere Art, seine Führerschaft, solange sie ihm dient, seine behaglichen Vorrechte zu schützen; glaubt er auch da, wo er um seiner höheren Art nicht auf einem ledernen Polster, sondern auf glühenden Nägeln sitzen müßte?«231 Anton spricht als Verdacht aus, was Frisch Jahre später als Grund für seinen Bruch mit der Bürgergesellschaft angeben wird: »Ich habe bemerkt, daß ich als Hinzugekommener die Sache viel ernster nahm, als die anderen, die gar nicht dahinter standen.«232 Diese Koinzidenz ist interessant, zeigt sie doch, daß Frisch nicht ›naiv‹ in die gutbürgerliche Gesellschaft eingetreten und erst im nachhinein, mit zunehmender Erfahrung, kritisch geworden ist. Noch vermied er radikale Schlüsse. Noch war er Bürger und wollte Bürger bleiben. Also macht er aus Antons Kritik an der Gesellschaft eine biologistische Theorie im Trend der Zeit233 : Es gibt »nur drei Wege für jeden Menschen«, und die sind durch Abstammung vorbestimmt. Weder gesellschaftliche noch individuelle Bedingungen können daran etwas ändern. Den ersten Weg beschreiten die »Gestalter des Lebens«. Sie sprengen alle Fesseln der Konvention und geben sich selbst ihren Lebenssinn. Der zweite Weg ist der Weg der »Erhalter des Lebens«. Sie sind »die Gesunden«, sie leben in »der bürgerlichen Ehe«. Weg drei ist der Leidensweg des genetischen Menschenschrotts, der »Halblinge«: »Man hat sein Leben so versehrt empfangen, daß man sich selber damit auszulöschen hat. Eine weitere Möglichkeit sehe ich nicht …«234 Anton erkennt sich als »Halbling«235 und bringt sich um. Was er nicht weiß: Yvonnes Sohn, Hanswalter, ist sein eigenes Kind, der »Halbling« hat sich entgegen seiner Bestimmung fortgepflanzt. Und eben dieser Hanswalter beginnt nun ein Verhältnis mit Hortenses Tochter. Die unglückliche Geschichte Jürg Reinharts droht sich zu wiederholen: »Es gibt keinen Anfang, kein Ende. Alles wiederholt sich, nichts kehrt uns wieder …«236
Der autobiographische Hintergrund von J'adore ce qui me brûle zeigt, mit welcher Ernsthaftigkeit der junge Autor seinen künftigen Lebens- und Schaffensweg schreibend zu erkunden versuchte, wie er Biographie und literarische Fiktion nicht als äußerliche Übereinstimmung von Fakten und Ereignissen verzahnte, sondern in der fiktionalen Durchdringung seiner jeweiligen Lebensprobleme sich Klarheit zu verschaffen versuchte. Die handwerklichen Fortschritte des neuen Romans waren beachtlich. Die »einzigartigen Lyrismen«, die Korrodi begeisterten,237 muten heute eher fremd an, aber der souveräne Umgang mit Perspektivwechseln, Rückblenden, Wechseln der Erzählebenen, mit komplexeren Handlungsverzahnungen, mit Vorzeichen und Jahreszeitensymbolik, all das verriet handwerkliche Könnerschaft. Erstmals experimentierte Frisch im neuen Text mit einer ironisch-verknappten Beschreib-Weise. Bislang hatte er vorzugsweise »mit Herzblut« geschrieben, das heißt: ohne Distanz zu den Figuren und Gegenständen. Ironie dagegen erzeugt Distanz, schafft spielerische Infragestellung und relativiert die Aussage auf ihre Aussagebedingungen hin. Neben das Beschriebene tritt das beschreibende Bewußtsein, der Autor verliert sich nicht in seinen Figuren und Gegenständen, sondern steht neben ihnen und führt sie vor. Nicht Nachempfinden durch Identifikation ist das Wirkungsziel von Ironie, sondern Nachdenklichkeit durch Distanz.238 Der späte Frisch war berühmt für seine reich facettierte Ironie. In Die Schwierigen entdeckt er für sich dieses Stil- und Erkenntnismittel.
Der neue Roman wurde in der Presse überwiegend positiv aufgenommen, und die Schweizerische Schillerstiftung verlieh ihm eine besondere Auszeichnung, indem sie hundert signierte Exemplare übernahm und als Weihnachtsgeschenk an ihre Mitglieder verteilte.239
»Von der guten Laune und dem Ernst der Zeit«
Auch das neue Buch sparte, obschon es bis in die Gegenwart führte, das politische