Dennoch beschloss er, in Basel zu bleiben. Es war die Stadt seiner Kindheit. Er liebte den Blick über den Rhein mit seinen trägen Wellen und auf den Messeturm am Horizont des anderen Ufers. Er liebte seine gelegentlichen Gänge durch die Stadt, den «Goldenen Sternen», seine Stammkneipe an Fluss, das Gewimmel der Menschen, die er nicht kannte, die Vielfalt an Sprachen und Völkern und die farbenprächtigen Gewänder der Afrikaner und Muslime, die jetzt im Frühling im Stadtbild wieder überhandnahmen. Und auf die paar Freunde, die ihm geblieben waren, mochte er keinesfalls verzichten. Ihre Gespräche, wenn sie gelegentlich abends zum Essen ausgingen, bewegten sich an der Oberfläche. Höchstpersönliches wurde kaum angesprochen, und so brauchte er von sich auch nichts preiszugeben.
Davon ausgenommen war natürlich sein Freund Kurt. Er lebte im Mittelland auf einer Anhöhe mit wunderschöner Aussicht auf die Dörfer, in der Ferne die Autobahn und weit hinten am Horizont die Bahn. Sein Haus hatte er perfekt eingerichtet; es hätte jeder Zeitschrift für schöneres Wohnen zur Ehre gereicht. Und seinen Garten pflegte er so liebevoll, dass kein Efeu und kein Unkräutlein sich in den kurzgeschorenen Rasen verirrten. Ihre Freundschaft bewährte sich seit gut dreißig Jahren, als sie gemeinsam im Militärdienst litten. Kurt kannte alle seine Schwächen, Kellenberger die seinen, und Kurt riet ihm dazu, sich trotz seiner unangenehmen Erfahrung mit Helen wieder nach einer Frau umzusehen.
Bei der Universal Bank kannte der Jurist seit langem den Generaldirektor Peter Danuser. Als er ihm telefonisch Matter als neuen Kunden anzeigte, klagten sie zunächst einträchtig über die Arglist der deutschen Behörden. Aber die Universal Bank sei nicht gefährdet, versicherte Danuser. Ihr Personal sei sorgfältig ausgewählt, sehr gut bezahlt und habe keinen Grund, die Bank oder deren Kunden zu verraten. Er lasse ihm sofort die notwendigen Dokumente für Herrn Matter zustellen.
Kellenberger wusste, dass es keine Rückfragen geben würde, wenn er Danuser alles sauber ausgefüllt zurücksandte. Beim Fragebogen setzte er als Matters Beruf «Steuerexperte» ein. Die Herkunft von dessen Mitteln umschrieb er mit «sehr erfolgreiche Betätigung im Finanzbereich unter Ausnützung seiner fundierten Spezialkenntnisse»; und schließlich bestätigte er, Matter persönlich gut zu kennen.
Als alles bereit war, bestellte der Anwalt Matter in seine Kanzlei. Es war Abend, und sie waren allein. Kellenberger ließ ihn alle Formulare unterzeichnen und legte seinen Begleitbrief an Danuser dazu.
«Jetzt können Sie das Ganze versenden, und in zwei Tagen ist Ihr Konto bereit.»
Matter schüttelte den Kopf. «Schicken Sie die Originale an die Bank und einen Satz Kopien an mich.» Dann fügte er maliziös hinzu: «Und vergessen Sie nicht die Auszahlung des Darlehens.»
Als Matter gegangen war, blätterte Kellenberger die Dokumente nochmals durch. Beim Blatt «Unterschriftenregelung» hielt er inne. Er hatte Matter als einzigen Zeichnungsberechtigten eingesetzt, die drei Felder darunter waren leer. Einem Impuls folgend, ging er hinaus ins Sekretariat. Dort gab es zum Ausfüllen von Formularen noch eine altmodische Schreibmaschine mit Farbband und Walze. Er spannte das Blatt ein und setzte sich als zweiten Zeichnungsberechtigten ein. Dann fügte er seine Unterschriftenprobe bei, kopierte alle Dokumente und stopfte sie in die Umschläge. Er verließ das Büro und warf die beiden Sendungen in den nächsten Postkasten. Falls ihn Matter je darauf ansprechen sollte – der Anwalt glaubte es nicht –, würde er es als reinen Routinevorgang darstellen. Bei Auslandkonten sollte nie nur eine einzige Person unterschriftsberechtigt sein.
Seine Vermutung erwies sich als richtig. Matter hatte seine Kopien nicht angeschaut. Ihm ging es nur ums Geld, nicht ums Papier.
4
Einige Tage später brachte die Post Matter die Bestätigung der Universal Bank, dass 3 850 000 Franken auf sein neues Konto einbezahlt worden seien. Die Bank schrieb dazu, sie offeriere gerne ihre Dienste bei der sorgfältigen Anlage seines Guthabens und stehe überhaupt jederzeit zu seiner Verfügung. Dem Anwalt hatte Peter Danuser eine Kopie geschickt und sich für die neue Geschäftsbeziehung bedankt. Es erwies sich bereits als nützlich, dass dieser ebenfalls unterschriftsberechtigt war. So erfuhr Kellenberger, dass Matter sich über seine zwei Millionen hinaus noch weitere Beträge zu erpressen verstanden hatte.
In derselben Post fand Matter neben den Bankmitteilungen die Todesanzeige über das Ableben seines Schulfreundes Sebastian Bogdan in London. Bogdan hatte ihm imponiert, weil er sich bei keiner Schurkerei erwischen ließ. Die Beisetzung war auf den kommenden Samstag angesetzt. Matter beschloss sofort, hinzureisen und das Wochenende mit seiner Freundin zu verbringen. Seine Frau orientierte er beim Mittagessen.
«Ich muss da hin. Ich reise Freitagabend und komme am Sonntag zurück.»
«Ich könnte dich begleiten. Es wäre schön, ein Wochenende mit dir in London.»
Matter schüttelte den Kopf. «Es werden etliche Schulkollegen dort sein. Man wird sicher nachher noch zusammen sein und Erinnerungen austauschen. Du würdest dich langweilen. Außerdem würde es glatt tausend Franken mehr kosten. So viel möchte ich für den guten Sebastian doch nicht ausgeben, haha.»
Er nahm die Karte, die in einer schönen kalligrafischen Schrift gedruckt war, am Nachmittag mit ins Büro.
Um siebzehn Uhr hörte er im Gang draußen die Schritte der Kollegen vom gleichen Stockwerk. Auf die Minute pünktlich verließen sie ihre Arbeitsplätze. Matter lehnte sich zurück. Er hielt nichts von dieser Eile am Feierabend. Jetzt war der Augenblick, da er seinen Gedanken freien Lauf lassen konnte.
Sein Blick fiel auf das Bild seiner Frau. Es gelang ihm, das Bild einer jungen Frau mit dunklen Mandelaugen und vollem langem Blondhaar in den Silberrahmen hineinzudenken. In einer halben Stunde würden sie sich treffen. Sylvia hatte Spanischunterricht; vor halb zehn würde sie nicht nach Hause kommen. Und jetzt, da ihm Geld in reichem Maß zur Verfügung stand, war es ohnehin an der Zeit, sich von ihr zu trennen. Sie war so bieder und langweilig geworden, und die Falten im Gesicht und am Bauch ließen sich mit allen Kosmetika – wie er diese Dosen und Tuben hasste, die überall im Bad herumstanden! – nicht wegzaubern. Und ihren Sohn hatte sie ebenfalls verdorben mit ihren ständigen Leitplanken und Richtlinien. Trotz seiner vierzehn Jahre weigerte sich Arnold hartnäckig, zu pubertieren. Er kiffte nicht und stellte nichts an. Wenn Leim auf den Stuhl des Lehrers geschmiert oder am Passat des Schulhausabwarts die Scheiben rosa gefärbt wurden, war Arnold nicht dabei. Seine Leistungen waren nicht gut und nicht schlecht, er wurde weder gescholten noch ausgezeichnet; es war, wie wenn es ihn gar nicht gäbe. Was immer an Persönlichkeit in ihm stecken mochte, verbarg er hinter einem scheuen, fast devoten Auftreten.
Herbert Matter schloss die Augen. Ich bin ein Glückspilz, dachte er, ich bin wirklich ein Glückspilz. Ich habe es ihnen gezeigt. Sollen die anderen statistische Größen bleiben, Material für Volkszählungen und Meinungsumfragen. Sollen sie weiterhin über Lohnerhöhungen um anderthalb oder zwei Prozent streiten. Ich fange jetzt an zu leben.
Dann dachte er: Bis es so weit ist, lebe ich unauffällig weiter wie bisher. Ich werde nicht mit Geld um mich werfen, höchstens manchmal ein Essen in einem der besseren Lokale. Heute Abend entscheidet sich, wie es weitergeht. Tanja wird sich freuen.
Tanja wartete auf Matter bei der letzten Tankstelle vor dem Grenzübergang ins Elsass. Das war jeden Mittwochabend ihr Treffpunkt, inmitten der französischen Grenzgänger, die mit ihren kleinen Renaults und Peugeots nach Hause fuhren. Dreizehntausend an der Zahl, wälzte sich ihr Zug jeden Morgen zur Arbeit nach Basel und jeden Abend zurück in die elsässischen Dörfer rund um die Grenze. Matter sah Tanjas blonden Schopf von weitem.
«Heute war er wieder unausstehlich», sagte sie, als sie die Zollstation hinter sich hatten. «Zwei Briefe waren schlecht formatiert, das Mailprogramm ist abgestürzt, ein Klient hat ihm das Mandat entzogen.»
Matter lachte. «Sei nachsichtig, mein Häslein. Kellenberger hat schwierige Zeiten hinter