«Nicht wirklich», erwiderte Sylvia Matter. Sie verstummte und fuhr erst nach längerem Schweigen fort. «Wissen Sie, als Frau fühlt man sich ganz klein und schäbig, wenn einem der Mann davonläuft. Man kommt sich unnütz vor, wie weggeworfen. Man fragt sich, was man falsch gemacht hat. Nicht, was er falsch gemacht hat. Ich habe Fehler begangen, sonst wäre er ja nicht ausgezogen. Dann kommt die Gegenreaktion. Er ist ein Schuft, ein elender. Zwanzig Jahre lang besorgt man ihm den Haushalt, erzieht den Sohn, weil der Papa keine Zeit hat, legt ihm die Hände unter die Füße. Man liebt ihn, selbst wenn er ungehalten ist und unfreundlich, selbst nachts, wenn er schnarcht wie ein Sägewerk. Und das soll es dann gewesen sein, das ganze Leben! Was danach kommt, interessiert niemanden. Und dann vernimmt man noch, dass er ein Verbrecher ist! Umbringen sollte man ihn, den Mistkerl, in die Hölle sollte er fahren!»
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Ihr Mund öffnete sich, als wolle sie noch etwas sagen, aber sie schwieg. Kellenberger befürchtete, sie werde gleich in Tränen ausbrechen. Er fragte:
«Kam das alles aus heiterem Himmel? Gab es keine Abkühlung in Ihrer Beziehung? Haben Sie nichts geahnt von seiner Unzufriedenheit?»
Sylvia Matter schüttelte den Kopf. «Wahrscheinlich war ich zu gutgläubig. Oder zu ahnungslos. Ich habe mich der Routine des Alltags hingegeben, ohne zu merken, dass das nicht genügt. Wäre ich wachsam gewesen, hätte ich die Zeichen rechtzeitig erkannt.»
Der Anwalt antwortete nichts. Er wechselte das Thema.
«Ich habe Ihnen noch nicht alles berichtet, Frau Matter.»
«Oh – gibt es noch weitere Hiobsbotschaften?»
«Ihr Mann hat seine Opfer auf kommenden Samstag nach London zitiert. Wahrscheinlich geht es um eine neue Teufelei.»
Sylvia schüttelte den Kopf. «Ich verstehe nichts mehr. Warum nach London? Sicher ins Old Hampshire Hotel.»
Jetzt staunte Kellenberger. «Ja, genau. Sitzungszimmer Leonardo. Aber wie kommen Sie auf dieses Hotel?»
«Er war vor drei Wochen in London an der Abdankung eines Schulfreundes. Wenigstens hat er mir das erzählt. Da wohnte er auch im ‹Old Hampshire›.» Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: «Ich durfte nicht mit, weil es zu teuer war.»
Sie schwieg, und ihr Schweigen senkte sich übers Konferenzzimmer wie eine schwere Decke. Als die Stille fast greifbar wurde, räusperte sich der Anwalt und sagte: «Sie machen eine schwierige Zeit durch. Ich bewundere Ihren Mut. Aber ich hoffe auch, dass Sie Diskretion bewahren werden. Im Gegenzug sichere ich Ihnen zu, Sie über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden zu halten, soweit ich dazu in der Lage bin.»
Er wunderte sich, dass sie nicht wissen wollte, ob er selber auch zu den Opfern zähle und ob er auch nach London reise. Dann, nach einer Pause, sagte er unvermittelt:
«Ihnen ist der Mann davongelaufen, Frau Matter. Mich hat meine Frau rausgeworfen. Ich habe eine Dummheit begangen, die ich seither bereue. Jetzt sind wir geschieden, und ich zahle für meine Dummheit.»
Sylvia Matter musterte ihn aufmerksam. Kellenberger erwiderte den Blick, er sah ihren goldenen Anhänger, ihre glitzernden Augen, ihr anliegendes weißes Kleid, aber er sah durch sie hindurch, ganz als habe er nur zu sich selber gesprochen. Sie fragte:
«Warum erzählen Sie mir das, Herr Kellenberger? Um dem einen Unglück ein zweites beizufügen?»
Er schüttelte den Kopf. «Nein, einfach so. Wir kennen uns wenig genug, dass wir uns nicht voreinander zu schämen brauchen. Ich dachte, es hilft Ihnen vielleicht, zu wissen, dass andere auch Unglück zu tragen haben.»
«Nein, das tut es nicht. Ich muss ja mein Unglück allein tragen.»
Als sie gegangen war, setzte sich Michael Kellenberger in sein Büro und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er hatte kein Licht eingeschaltet. Ein Bündel Briefe flatterte auf den Boden. Er ließ sie liegen. Die Dämmerung legte sich langsam über den Fluss; die Silhouetten der Häuser auf der anderen Seite stachen spitz wie Scherenschnitte in den Himmel. Er begriff hinterher nicht, was ihn veranlasst hatte, dieser Frau, die er nicht kannte, seinen persönlichen Kummer anzuvertrauen. Aber sie imponierte ihm mit ihrer Gradlinigkeit. Und wenn er die Augen schloss, erschien ihm ihre gepflegte Figur, durchaus noch attraktiv, ihr rotbraunes Haar, das die Ohren zur Hälfte verdeckte, und ihr Blick – nicht leicht anzüglich wie der Tanjas –, sondern ehrlich und rührend zutraulich.
Aber da war noch Helen. Sie hatte sein drittes Kind in ihrem Leib getragen. Vor sechs Jahren. Während genau vier Monaten. Sie hatten gelacht wie die Kinder; er hatte ihr Hemd hochgestreift und ihren Bauch gestreichelt. Natürlich war noch nichts zu sehen. Sie hatten gespritzten Weißwein getrunken im Bett. Er hatte sie weiter gestreichelt, dann sie ihn, und am Ende hatten sie sich geliebt, fröhlich und unbeschwert, bei offenem Fenster, umschmeichelt von den Sonnenstrahlen eines warmen Sommerabends.
Bis sein Ausrutscher mit der Freundin einer Bekannten der Idylle ein Ende bereitete. Im Grunde war es nicht der Ausrutscher, der ihre Ehe unheilbar vergiftete, sondern sein spontanes Geständnis hinterher, als die Affäre nach nur zwei Wochen bereits verpufft war. Dabei hatte er sich eine Überlegungsfrist von einem Tag eingeräumt und sich beinahe aufgerieben ob der Frage, was richtig sei: Geständnis oder Stillschweigen.
Helen hatte hysterisch reagiert auf sein Bekenntnis einer männlichen Schwäche. Ihr Menschenbild ließ eine unbedachte, bedeutungslose Verirrung nicht zu. Ihre herausgeschrienen Vorwürfe klangen Michael in den Ohren wie am ersten Tag; ihre Flüche und Verwünschungen, dann ihre Tränen. Und zuletzt der Abort ihres Kindes als Folge ihrer psychischen Erschöpfung.
Michael verdrängte die Erinnerung. Er hatte Helen geliebt. Wahrscheinlich liebte er sie immer noch, aber das wollte er sich nicht eingestehen. Manchmal vermisste er sie, vor allem wenn er mit sich allein war. Aber Helen verweigerte jeden Kontakt; übrig geblieben waren nur seine monatlichen Zahlungen. Und das Gerücht, sie sei lesbisch geworden, zugetragen von einem wohlmeinenden Freund.
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