Herbert Matter fühlte sich frei und leicht wie die Möwen, die über dem Zürichsee ihre Kreise zogen. Am Morgen hatte er sich im Büro krankgemeldet. Jetzt genoss er das Gefühl, an einem gewöhnlichen Arbeitstag sein eigener Herr und Meister zu sein. Am Abend stand ihm der Einzug in die kleine Wohnung bevor, die er am Stadtrand von Basel gemietet hatte.
Im Internet hatte er «Treuhandbüros in Vaduz» eingegeben und festgestellt, dass es über hundert davon gab. Nach gründlichem Studium verschiedener Internetseiten entschied er sich für die Treuhand Dr. Wanger, rief an und erhielt einen Termin auf den frühen Nachmittag. Jetzt gab er sich ganz seiner Autofahrt hin. Das Radio spielte anspruchslose Schlager, sein Opel Astra spulte mit gemütlichen hundertzwanzig über die Autobahn, und es störte ihn nicht, dass er immer wieder von übermütigen Rasern überholt wurde. Sein Vermögen lag gut angelegt bei der Universal Bank. Einige Aktien waren bereits im Wert gestiegen, wie ihm seine regelmäßigen Kontrollblicke auf eine Wertschriftenseite im Internet bestätigten, die er auf seinem Laptop eingerichtet hatte. Am Walensee öffnete sich die Sicht auf die Kurfirsten; ihre bissigen Zacken waren noch mit Schnee bedeckt, und am Himmel schwebten flauschige Schäfchenwolken und hatten nichts zu tun.
Sorge bereitete ihm allerdings die deutsche Steueraffäre. Aufgeschreckt durch die Äußerungen des Anwalts Kellenberger hatte er alle Zeitungsartikel studiert, deren er habhaft werden konnte. Zweifel befielen ihn, ob das Fürstentum das Bankgeheimnis noch zu wahren vermochte. Schon vor zwei, drei Jahren hatte ein gewissenloser Angestellter einer der großen Banken Liechtensteins Kundendaten ausländischer Bankkunden, darunter über tausend reiche Deutsche, gestohlen und für mehr als vier Millionen Euro an den deutschen Bundesnachrichtendienst verkauft. Dieser hatte die Informationen an die Steuerbehörde weitergeleitet. Und jetzt, kürzlich, waren den deutschen Behörden neue cds mit Kundendaten, diesmal aus der Schweiz, zugespielt worden. Die Steuerfahnder vermuteten, häufig zu Recht, dass die denunzierten Personen Einkommen und Vermögen am Fiskus vorbei nach Liechtenstein oder in die Schweiz geschleust und in anonymen Stiftungen versteckt hatten. Razzien im Morgengrauen in vornehmen Villen, Beschlagnahmung von Akten, Verhaftungen – teilweise vor laufenden Fernsehkameras – und Einvernahmen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren die Folge. Da enthüllte die Staatsgewalt eine hässliche Fratze, die man seit gut siebzig Jahren überwunden geglaubt hatte. Dass eine Person als unschuldig galt, bis ein Gerichtsurteil das Gegenteil feststellte, wurde vergessen. Erfolgreiche Anwälte, Unternehmensleiter und reiche Erbinnen erstatteten in großer Zahl Selbstanzeige. Die deutsche Regierung, um ihr ramponiertes Ansehen aufzubessern, offerierte die erbeuteten Daten unentgeltlich den übrigen Regierungen der Europäischen Union. Einige nahmen an, Dänemark lehnte entrüstet ab.
In der Schweiz wurde viel Druckerschwärze auf das Problem verwendet, ob die deutschen Behörden rechtmäßig gehandelt hatten. Alle waren sich einig, dass wer Steuern hinterzog, bestraft werden sollte. Die Frage war bloß, ob der Staat rechtswidrig handeln durfte, um Unrecht aufzudecken. Wenn eine Privatperson Diebesgut erwarb und wusste, dass es gestohlen war, erfüllte sie den strafbaren Tatbestand der Hehlerei. Wenn eine Behörde eines Rechtsstaates dasselbe tat, warfen ihr die einen Raubrittertum vor, während andere fanden, der Zweck heilige durchaus die Mittel.
Für Herbert Matter waren das moralische Spitzfindigkeiten. Ihn interessierte einzig, ob Schweizer Kunden von liechtensteinischen Banken ebenfalls gefährdet waren, ob allenfalls andere unzufriedene Bankangestellte auch auf die Idee kamen, ihre Informationen dem Meistbietenden zu verhökern. Aufgrund seiner Lektüre war er zum Schluss gekommen, dass Schweizer Behörden für vergleichbare Informationen kein Geld herausrücken würden. Außerdem handelte es sich bei der Universal Bank um ein vergleichsweise kleines Institut mit wenigen Angestellten, die einfacher zu überwachen waren. Und schließlich würde er sein Vermögen ohnehin nach Neuseeland transferieren, sobald er dort Fuß gefasst hatte.
Vor der Abfahrt am Morgen hatte er ihre Flüge gebucht, am Freitag nach London und für den Sonntagabend – First Class – weiter über Sydney nach Wellington. Anschließend telefonierte er mit seinen Opfern und bestellte sie nach London ins Old Hampshire Hotel. Ein wichtiger neuer Umstand erfordere ein weiteres persönliches Gespräch, erklärte er. Und, nein, aus Diskretionsgründen komme Basel als Ort für das Treffen nicht in Frage. Eine Weigerung würde sich äußerst nachteilig auswirken. Sein Vorgesetzter sei bei einer Routinekontrolle auf ihre Dossiers gestoßen und habe detaillierten Aufschluss verlangt. Weitere Einzelheiten seien nicht am Telefon zu besprechen. Bei Dr. Huber fügte er bei, er werde sich in London zu seinem Wunsch äußern.
Alle drei reagierten verärgert, aber alle drei willigten ein, am Samstag zur Besprechung zu erscheinen.
Im Treuhandbüro Dr. Wanger wurde Herbert Matter von einem Mitarbeiter namens Josef Ritter empfangen. Es gefiel ihm, dass man ihn überaus freundlich in ein Sitzungszimmer bat und ihm gleich eine Tasse Kaffee offerierte. Der junge Mann hatte Manieren und wusste, was sich gehörte. Er trug einen dunkelblauen Anzug; eine Hornbrille verlieh seinem Gesicht einen ernsten, nachdenklichen Ausdruck. Als Matter sich nach Einzelheiten zur Gründung einer Stiftung erkundigte, öffnete Ritter eine Broschüre und schob sie über den Tisch. Während der nächsten Viertelstunde erfuhr Matter alles Notwendige. Diskretion sei gewährleistet; Stiftungen würden nicht in ein öffentliches Register eingetragen, sondern die Akten lediglich bei einer Amtsstelle hinterlegt. Die Kosten erwiesen sich als bescheiden. Als Stiftungszweck sollte «Förderung der Alpakazucht und Ausrichtung von Beiträgen an die Lebenshaltungskosten bestimmter Personen» festgeschrieben werden. Die «bestimmten Personen» waren in einem Reglement zu bezeichnen; sie konnten jederzeit wieder gestrichen und durch andere ersetzt werden.
Jetzt lehnte sich Herbert Matter zurück. Mit seinen Kugelaugen fixierte er den jungen Angestellten, bis dieser hinter seiner Brille den Blick senkte. Er sagte:
«Zum Thema Diskretion. Die Schlagzeilen der letzten Wochen über das Fürstentum haben das Gegenteil in die Welt hinausposaunt, haha! Wie sicher sind Sie eigentlich, dass nicht auch Ihre Kundendaten an deutsche oder andere ausländische Behörden verkauft werden?»
Ritter räusperte sich, als sei ihm ein Insekt in die Luftröhre geraten. «Herr Matter, es wird Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen verrate, dass man uns diese Frage in den letzten Tagen schon einige Male gestellt hat.»
«Nein, das wundert mich nicht. Und Ihre Antwort?»
«Wir sind ein kleines Unternehmen mit zweiundzwanzig Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Wir haben das Glück, einen guten und verständnisvollen Chef zu haben. Unser Geschäft lebt von seinem guten Ruf, der über mehr als dreißig Jahre erarbeitet worden ist. Niemand bei uns würde auf die Idee kommen, am Ast zu sägen, auf dem wir sitzen. Die Zufriedenheit unserer Kunden ist unser oberstes Ziel.»
Herbert Matter lachte sein schepperndes Lachen. «Soso! Und diese große Bank, deren Kunden nach Deutschland verraten worden sind? Lebt die nicht auch von ihrem guten Ruf?»
«Es handelt sich dort um eine eigentliche Großbank mit sehr vielen Mitarbeitern. Offensichtlich haben die Kontrollen und das Sicherheitssystem versagt. Es wird Jahre dauern, bis sie das verlorene Vertrauen zurückgewinnt. Ob sie überhaupt überlebt, ist noch völlig ungewiss.»
Ganz allmählich begriff der Steuerbeamte Herbert Matter, dass es in Geldangelegenheiten keine Sicherheit mehr gab.
Um halb vier war alles klar.
«Bis Ende Woche ist die Alpaka-Stiftung gegründet», erklärte Josef Ritter. «Dann können wir das Bankkonto eröffnen.»
«Kann man das