Forschen. Niklaus Meienberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Niklaus Meienberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551652
Скачать книгу
wen? Geschichte des Volkes, vom Volk selbst verfasst, das ohne Hemmungen frisch von der Leber weg erzählt, kann recht problematisch werden für alle Arten von Machthabern.

      Der Intellektuelle hat bei dieser «Schreibung» nicht mehr die Funktion des allmächtigen, einsamen Interpreten und Schreibtisch-Strategen, er spürt nur die Leute auf, die sich genau erinnern, und überlässt ihnen das Wort. Er ist eine Art von Mikrophon, funktioniert vor allem als Zuhörer, wie der Psycho-Analytiker. Durch geduldiges Zuhören bringt er die widerborstige Wahrheit an den Tag. Natürlich montiert er die verstreuten Aussagen schlussendlich zu einem Ganzen. Aber wenn diese subjektive Montage im Widerspruch steht zur Grundströmung der objektiv geäusserten Meinungen, dann blamiert er sich selbst vor dem Leser (oder Zuschauer).

      Übrigens sei natürlich nichts gegen die Verwendung von schriftlichen Quellen gesagt: Sie dürfen nur keine Exklusivität beanspruchen, sollen in einem dialektischen Verhältnis zu den mündlichen Zeugnissen stehen.

      «Ein tendenziöser Film braucht keineswegs ein schlechter Film zu sein.» Ich finde es – wenn ich an die Reaktion bürgerlich-konservativer Kreise denke – sehr bemerkenswert, wenn ein Historiker vom Rang Bonjours eine solche Feststellung macht. Bemerkenswert ist allerdings auch das hier deutlich werdende Verständnis von «Tendenz». Jeder Historiker – auch einer, der das Volk reden lässt – hat bekanntlich eine Welt-Anschauung, eine politische Farbe, welche abfärbt auf seine Produktion, eine Tendenz. Aber die Produktion kann umgekehrt auch die politische Farbe verändern. Ich kenne einen bürgerlichen Zeitgeschichtler im Bundesarchiv von Bern, Spezialist für die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz, der mir kürzlich sagte: Bei der Entdeckung von gewissen Dokumenten, die eine schlimme Nazifreundlichkeit unserer einheimischen Wirtschaftsführer verraten, sei es ihm oft kalt den Rücken heruntergelaufen und der Gedanke an das Schicksal der Schweiz, das zum Teil in den Händen dieser problematischen Leute gelegen habe, könne einen schon tüchtig radikalisieren.

      Ich habe meine Meinung ebenfalls durch Faktenzwang revidiert und eine Entwicklung durchgemacht im Laufe der Recherchen über Ernst S. Eine gewisse Radikalisierung war nicht aufzuhalten, wenn man das haarsträubende Gutachten des Psychiaters Hans-Oscar Pfister durchgeblättert hat und mit den Geschwistern des Erschossenen viel und gründlich diskutierte. Ich habe dann dank dieser Tendenz, die von Fakten geschaffen wurde, wieder neue tendenziöse Fakten gefunden, das Verhalten des nazifreundlichen Industriellen Mettler zum Beispiel.

      Bonjour hat ebenfalls eine Tendenz, er tendiert unter anderem auf eine, wenn auch gemässigte, Armee-Gläubigkeit. Wenn er zum Beispiel schreibt: «Korpskommandant Wille war durch unzweifelhafte Meriten als militärischer Erzieher zu sehr mit der Schweiz verbunden, als dass man in seiner Handlungsweise landesverräterische Motive sehen dürfte», dann liegt seinem Gedankengang eine deutliche Tendenz zugrunde: a) die Armee ist in jedem Fall ein Teil des Volksganzen und handelt im Interesse der Nation, b) Wille hat für die Ausbildung dieser Armee in der Zwischenkriegszeit viel geleistet, c) also kann er keine Handlungen begehen, welche das Land sabotieren und eventuell landesverräterisch sind. (Es kann nicht sein, was nicht sein darf.)

      Man mag jedoch in guten Treuen über diese Armee tendenziell auch anders denken: die Büezer, welche den unsäglich preussischen Drill im Militär erdulden mussten, werden Oberstkorpskommandant Wille kaum einen «Soldatenerzieher» genannt, sondern vermutlich einen wüsten, eventuell juristisch fassbaren Ausdruck gebraucht haben. Und es ist auf dem Hintergrund von neueren geschichtlichen Erfahrungen durchaus möglich, dass eine Offizierskaste vor allem ihre Spezialinteressen vertritt, welche mit dem Nationalinteresse nicht identisch sind. So waren die französischen Generäle Challe, Salan, Jouhaud, Zeller, die kurz vor dem Ende des Algerienkrieges gegen die Republik putschten, bestimmt auch gute «Soldatenerzieher» (das heisst Soldatenschleifer) mit unzweifelhaften Meriten gewesen – und trotzdem musste de Gaulle sie dann als Verräter einsperren. Bei Ulrich Wille sehe auch ich keine landesverräterischen Motive. Aber ich sehe sie nicht deshalb nicht, weil der Korpskommandant Soldatenerzieher gewesen ist …

      In jedem Adjektiv, das ein Historiker benützt, spiegelt sich also die Tendenz, und auch in den Substantiven. Und die wollen wir ihm nicht ankreiden und halt nur hoffen, dass er die andern Historiker nicht im abwertenden Sinne «tendenziös» nennt.

      PS: Weitere Notizen zur schriftl. und mündlichen Überlieferung: «Frau Arnold reist nach Amerika».

      Die beste Zigarette seines Lebens

      Schläpfer ist als fünftes von sieben Kindern einer Familie im Aargauischen geboren, im schönen Bauerndorf Oettingen* * Orts- und Familiennamen wurden in den meisten Fällen verändert.. Die Gemeinderatskanzlei von Oettingen gibt folgende Auskunft zuhanden des Grossrichters der 8. Division: «Obgenannter Schläpfer Johann ist bei seinen Eltern wohnhaft. Bis heute ist über dessen Lebensweise nichts Nachteiliges bekannt. Dessen Eltern besorgen das Schulhaus, und Vater Schläpfer ist nebst dem Strassenarbeiter. Dieselben wie auch der Sohn Johann sind vermögenslos und sind unbedingt auf ihren Verdienst angewiesen. Die Familie ist finanziell immer etwas knapp. Immerhin ist bei denselben in dieser Richtung nie etwas Unregelmässiges vorgekommen. Bei Johann Schläpfer handelt es sich um einen Mann, der bestrebt ist vorwärtszukommen. Schliesslich ist noch zu bemerken, dass der Angefragte gerne viel redet, so dass man seinen Aussagen nicht immer vollen Glauben schenkt. 3. März 1942. Die Gemeinderatskanzlei.»

      Johann Schläpfer war bestrebt vorwärtszukommen. Er besuchte zwei Jahre lang die Sekundarschule in der nahen Kantonshauptstadt, machte ein Welschlandjahr, beides war für den Sohn des Strassenputzers nicht selbstverständlich. Dann musste er verdienen, um Eltern und Geschwister zu unterstützen. Für eine richtige Zahnpflege war in der Familie nicht genügend Geld vorhanden, Johann hatte mit 21 Jahren schon ein künstliches Gebiss. Ein Gefängnisaufseher erinnert sich an dieses Detail, weil er ihm am Abend vor der Hinrichtung sagte: Morgen musst du auf die Zähne beissen, worauf Johann sagte: Das kann ich leider nicht. Weil Johann Schläpfer sofort verdienen musste, war er immer in untergeordneten Stellungen tätig, Hilfsbuchhalter, Hilfsmagaziner, Hilfsbürolist, Hilfsarbeiter. Eine Lehre lag nicht drin. Kurze Zeit arbeitete er als Bürokraft in der Chemikalienhandlung Zuppinger in Oettingen. Der alte Zuppinger sagt heute über Johann Schläpfer: Er war nicht einmal fähig, einen Frachtbrief korrekt auszufüllen, der Johann war sicher kein grosser Spion, aber irgendwann hat man ja anfangen müssen mit den Erschiessungen, obwohl man vielleicht auch an einem andern Ort hätte anfangen können, der Bundespräsident von damals war auch nicht der Sauberste gewesen. Im Dorf habe das Todesurteil nicht besonders viel Aufsehen erregt, in der struben Zeit damals sei das Ereignis in den Kriegsmeldungen untergegangen.

      Kurz vor dem Krieg wurde Schläpfer stellungslos, von Zuppinger wegen mangelhafter Leistungen entlassen. Deshalb habe er Freude am Militär gehabt, sagt die Schwester Frieda, die noch heute in Oettingen lebt. Das Militär bot ihm Aufstiegsmöglichkeiten und eine Sicherheit, die er im Zivilleben nicht hatte. Er rückte in eine Verpflegungsabteilung ein und konnte die Fourierschule besuchen, allerdings nur als Magazinfourier. Die Schwester lebt in sehr bescheidenen Verhältnissen in der alten Schläpferschen Wohnung, wo sich seit dem Aktivdienst nicht viel verändert hat. Sie bittet inständig, in Oettingen um Himmels willen nicht nach ihrem verstorbenen Bruder zu forschen, sie würde es nicht ertragen, wenn wieder «davon» gesprochen würde, sie sei sonst mit den Nerven schon ganz unten. Der Vater sei damals aus Gram über die Schande gestorben, bald nach der Erschiessung. Er habe den letzten Rappen dem Advokaten Sonderegger gebracht. Es sei ihnen damals vorgekommen, als ob der Johann mit einem Stein am Hals im Meer versenkt worden sei, er sei einfach verschwunden. Die Familie habe keine Akten gesehen und gar nicht richtig gewusst, was eigentlich passiert sei. Sie seien gänzlich ohne Protektion dagestanden, und die Richter werden gedacht haben: Das ist nur ein Arbeitersohn, den nehmen wir jetzt.

      Es gibt einen Brief von Johann aus dieser Zeit, der in der Untersuchungshaft geschrieben wurde: «Meine lieben Eltern und Geschwister! Ich muss zur Feder greifen um einige liebe Worte mit Euch meine Lieben zu berichten. (…) Wie geht es Euch? Ich hoffe gut und es seien alle gesund. Die Behandlung und die Kost hier sind gut, aber wisst ich habe immer so ein furchtbares Heimweh nach Oettingen. Ich bin durch einen Kameraden in eine sehr unangenehme Sache verwickelt. Ich kann Euch nicht schreiben was es ist. (…) Ich weiss nur dass es überhaupt keine Kameraden gibt, auch im Militärdienst nicht.