Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Schaub
Издательство: Bookwire
Серия: Simon Tanner ermittelt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919459
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erst aus dem Körper, wenn er zerschmettert am Boden liegt? Und was macht sie danach? Kehrt sie zurück in Gottes Schoß, wie er es als Kind geglaubt hat? Oder macht sie sich bereit für einen neuen Körper?

      Er lacht laut auf.

      Mein Gott, jetzt lebe ich schon so lange und bin der Lösung von entscheidenden Fragen noch nicht ein Jota näher.

      Im Gegenteil. Damals hatte er noch die tröstende Illusion, dass er irgendwann alles verstehen würde. Wenn er einmal groß und erwachsen wäre. Jetzt ist er groß und erwachsen. Und wo sind sie, die erwarteten Erkenntnisse? Das Schönste, was er über den Tod weiß, sind immer noch die Worte von Hamlet.

      … sterben, schlafen/Schlafen, vielleicht auch träumen

      Noch einmal lacht er auf. Eine Taube, die unbemerkt hoch über seinem Kopf in einer Turmnische geschlummert hat, fliegt erschreckt in den heißen Himmel.

      Tanner lässt sich erschöpft auf den Boden nieder. Eines ist genauso geblieben wie damals: Nie und nimmer hätte er die Kraft, sich auf diese Brüstung zu stellen und zu springen. Obwohl er heute Gründe hätte.

      Ach Elsie, wann wirst du wieder erwachen? Erwachen. Was für ein Glück wäre das!

      Lieber Gott, mach, dass sie aufwacht! So hätte er als Kind gebetet. Heute kann er es nicht mehr.

      Er fährt sich mit der Hand durch die Haare und muss wieder lachen.

      Hat er nicht selber immer lauthals verkündet, dass solche Vorstellungen wie Glück oder Gott eine Erfindung des Menschen sind? Weil der Mensch die Gleichgültigkeit des Lebens nicht ertragen kann.

      Ja, das war doch eines seiner Lieblingsthemen. Wie oft hat er damit in Gesellschaft brilliert.

      Meine Herrschaften, mit dem Glück verhält es sich wie mit dem Lottospiel. Es folgt nicht Ihren Wünschen. Oh nein! Sie glauben, dass Sie eines Tages das große Los gewinnen? Und zwar, weil es Ihnen zusteht? Und einzig, weil Sie daran glauben, denken Sie, Sie könnten dadurch das Glück in die Knie zwingen? Sie hätten sich durch diesen tagtäglichen, fleißigen Glauben sogar das Recht auf Glück erworben? Lachhaft. Es gibt nur Mathematik. Kühle, emotionslose Mathematik. Es gibt kein persönliches Schicksal. Es gibt kein Glück. Keinen Gott. Das meiste, was einem widerfährt, hat man sich sowieso selber eingebrockt.

      Er verscheucht den Gedanken an Elsie.

      Wenn man durch die Ritzen der Brüstung schaut, gewinnt man den Eindruck, dass das Leben unter der gewaltigen Hitze eingeschlafen ist, aber es hat sich nur in mehr oder weniger kühle Häuser zurückgezogen.

      Wie gut, dass er an so einem Tag auf diesen Turm gestiegen ist. Vielleicht sollte er sein Leben hier oben verbringen. Hier oben sitzen bleiben wie ein Buddha. Oder wie Baudolino. Blieb der nicht so lange auf einer Säule sitzen, bis die Menschen glaubten, er sei ein Heiliger? Sie brachten ihm Essen und Trinken, fragten ihn um Rat, überhäuften ihn schließlich mit Geschenken. Leider hat er vergessen, warum Baudolino jemals wieder von seiner Säule gestiegen ist. Sicher wegen einer Frau. Wahrlich der einzige Grund, um von einer Säule zu steigen, auf der man sonst alles hat.

      Wann ist er das letzte Mal mit einer Frau zusammen gewesen? Seit Elsie im Koma liegt, nicht mehr.

      Er will den Gedanken nicht zu Ende denken, aber es gelingt nicht ganz. Er zwingt sich aufzustehen und schaut angestrengt über die Stadt, über der jetzt so etwas wie ein Schleier liegt.

      Mehr als ein Jahr kein Kontakt zu einer Frau. Wenn ihm das jemand prophezeit hätte! Er hätte nur gelacht.

      Mehr als ein Jahr lang pendelte er praktisch nur zwischen seiner Wohnung am See und der Klinik. Er lebte vollkommen zurückgezogen. Gesprochen hatte er in der ganzen Zeit hauptsächlich mit Ärzten. Und natürlich mit Elsie, aber das war sehr einseitig. Und ab und zu mit Ruth und den Kindern. Ach ja, und mit Michel, der sich große Sorgen um ihn machte.

      In diesem Augenblick wird die Tür aufgestoßen und drei junge Japanerinnen stolpern kichernd gegen die Balustrade. Ihr Lachen bricht abrupt ab, als sie sehen, dass sie nicht allein auf dem Turm sind.

      Tanner nickt ihnen zu. Sie nicken zurück, lehnen sich über die Brüstung und gleich kichern sie von neuem. Sie unterhalten sich schnell, mit hohen Stimmen. Ab und zu werfen sie ihm verstohlene Blicke zu. Wenn er lächelt, drehen sie sich schnell weg und lachen erneut. Alle drei tragen weiße Sommerhütchen. Eng aneinander gepresst, lehnen sie sich an die Brüstung. Aufmerksam studiert Tanner ihre Körper. Ihre Kleidchen sind am Rücken tief ausgeschnitten, zeigen eine makellose Haut. Die Mädchen lassen ihre nackten Arme über die Brüstung baumeln. Die Größte von ihnen hat einen unglaublich runden Po. Tanner schließt seufzend seine Augen. Ungefragt tauchen Bilder von Harumi auf.

      Er hatte sie vor langer Zeit in Paris kennen gelernt. Ihre Affäre dauerte leider nur ein paar Wochen. Aber nie hat er ihre Haut vergessen. Und ihre Art der Hingabe.

      Seufzend öffnet er die Augen. Die drei Mädchen verschwinden gerade durch die Tür. Die Letzte dreht sich kokett um, winkt ihm zu, lächelt und schließt die Tür.

      Na ja, auch gut.

      Tanner bleibt noch einen Moment, damit es nicht aussieht, als folge er den drei fernöstlichen Kichererbsen, und beginnt dann gemächlich den Abstieg.

      Draußen betrachtet er die Fassade des Münsters. Links sticht der heilige Georg einen kleinen, ziemlich süßen Drachen ab. Rechts teilt der heilige Martin seinen kostbaren Samtmantel.

      Zu sehen sind in harmloser Darstellung eine der Kernkompetenzen und eine der Haupttugenden unserer westlichen Zivilisation. Das arrogante Bezwingen der Natur vom hohen Ross aus und das Mitleid. Wobei Ersteres bis zur Vollendung, beziehungsweise Zerstörung, gekonnt ausgeführt wurde und wird. Mitleid hingegen? Mit sich selbst im besten Fall. Aber vielleicht bewegt er sich ja einfach in einem zu schlechten Milieu, so dass er selten dem Mitleid begegnet. Er dreht sich um, geht auf das Eckhaus gegenüber dem Münster zu. In diesem Haus hat er während des Studiums für ein paar Wochen gearbeitet. Früher war hier das Maschinenamt der Stadt untergebracht. Heute nennen die das Finanzen, Controlling, Informatik.

      Mensch, haben die früher eine ruhige Kugel geschoben.

      Bereits um neun Uhr schickte man ihn los, um umfangreiche Einkäufe für die erste Pause zu tätigen. Nicht selten befand sich auch Schnaps auf seinem Einkaufszettel.

      Er liebte diese Gänge. Er konnte ruhig durch die Gassen der Altstadt schlendern und die Auslagen der Geschäfte bewundern. Man erwartete ihn erst wieder gegen zehn Uhr. Dann wurde ausgiebig ein zweites Frühstück verschlungen, gar zu anstrengend waren die ersten zwei Arbeitsstunden gewesen. Danach schleppte sich die Zeit bis gegen Mittag. Pause. Nach dem Essen döste jeder ungestört an seinem Arbeitspult. Nach einer Kaffeepause gegen drei Uhr kam dann eine gewisse Hektik auf, denn es mussten ja doch in Gottes Namen noch einige Dinge erledigt werden, bevor es Feierabend wurde. Ein angenehmes Leben bei festem Gehalt, Ferien und Feiertagen. Aber das ein ganzes Leben lang? Für den jungen Tanner eine Horrorvorstellung. Ach ja, da gab es diese blonde Sekretärin. Sie war fünfunddreißig Jahre alt und eine Grenzgängerin, die bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit ein helles Lachen bereithielt und einen steil aufgerichteten Busen unter ihren hellblauen Pullöverchen zur Schau trug. Regelmäßig streckte sie ihre Arme in die Höhe, räkelte sich mit Inbrunst, gähnte und ordnete genüsslich ihren BH oder das, was er für Geheimnisse barg, mit zärtlich kräftigem Griff. Anschließend pflegte sie nach schräg links zu blicken, wo sie damit rechnen konnte, dass Tanner sie anstarrte wie ein Weltwunder. Dann zwinkerte sie ihm zu und er wurde rot. Er wartete natürlich sehnsüchtig auf diese kleinen Turnübungen, die, dem Himmel sei es gedankt, mit schöner Regelmäßigkeit stattfanden und so den Tag in erträgliche Portionen zerlegten. Ihr Busen stellte das wenige, physikalische Wissen in Frage, das sein Lehrer mühsam in die Tanner’schen Hirnwindungen eingetrichtert hatte.

      Eines Tages lud sie ihn zum Nachtessen in ihr kleines Appartement ein. Im Schimmer einer monströsen Kerze mit mehreren Dochten zog sie ihren berühmten hellblauen Pullover und ihren BH aus. Damit war das physikalische Weltbild sogleich wieder im Lot.

      Seufzend wendet sich Tanner von dem Hause