Urte Blankenstein
Mit Frank Nussbücker
Habt ihr Kummer oder Sorgen …
Mein Leben als Frau Puppendoktor Pille
Autobiografie
Bild und Heimat
eISBN 978-3-95958-799-0
© by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: picture alliance / ZB / Klaus Winkler (groß); Privatarchiv Urte Blankenstein (klein)
Bildnachweis (Inhalt): Soweit nicht anders angegeben stammen die Bilder aus dem Privatarchiv von Urte Blankenstein.
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Axel-Springer-Str. 52
10969 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Gestrandet in Wismar
Mit Schwester Elke, sie singt, ca. 1944.
Noch in Pillau, Urte ist ein gutes Jahr alt.
Das ist die Welt!«, sagte meine große Schwester zu mir. Wir standen auf einem Hocker und schauten aus der Dachluke auf die gegenüberliegenden Dächer.
Ich war gerade drei Jahre alt, meine Schwester Elke fünf. Das war 1947 in Wismar.
An meinen Geburtsort Pillau in Ostpreußen habe ich keine Erinnerung mehr.
Der kleine, beschauliche Fischerort mit 12 000 Einwohnern liegt an der Einfahrt ins Frische Haff und verfügte über zahlreiche Hafenbecken. Das war auch der Grund dafür, dass wenige Tage nach Beginn der sowjetischen Großoffensive am 12. April 1945 mitten im Winter das Chaos ausbrach. Der Hafen von Pillau wurde zur letzten Rettung für bis zu 200 000 hungernde und frierende Flüchtlinge, die auf der Flucht vor der Roten Armee um einen Platz auf einem der Schiffe kämpften.
Auf den Frachtern waren die Laderäume mit Stroh ausgelegt. Sie sind ebenso mit Flüchtlingen und verwundeten Soldaten überfüllt wie die Kabinen der Passagierschiffe.
Da war es ein großes Glück, dass ein Onkel von uns als Lotse im Pillauer Hafen arbeitete und wir dadurch mit anderen Verwandten zusammen einen Platz in einer Kabine auf dem ehemaligen Kadetten-Wohnschiff Pretoria bekamen, wie meine Schwester Elke zu erzählen weiß. Ein Kinderwagen, zwei kleine Koffer und ihre zwei Kinder – das war alles, was meine Mutti mitnehmen konnte.
Auch die Wilhelm Gustloff, 1937 als Fahrgastschiff für Kreuzfahrten gebaut, musste jetzt Flüchtlinge aus Ostpreußen über die Ostsee nach Westen bringen. Wenige Tage, nachdem wir mit der Pretoria in See gestochen waren, sank die Gustloff nach der Torpedierung durch ein sowjetisches U-Boot mit Tausenden Flüchtlingen an Bord. Eine der größten Schiffskatastrophen aller Zeiten.
Unsere Schiffsreise endete in Stettin und Muttis Flucht nach mehreren Wochen in Wismar – dort, wo Elke und ich aus der Dachluke den Blick auf die Welt wagten. Als unsere Mutti später in die BRD nach Bredenbek ausreiste, erhielt sie dort, nach glaubhafter Beschreibung der Flucht, die übliche Entschädigungszahlung für Flüchtlinge.
Mutti erzählte, dass wir in der Nähe von Stettin bei Bauern untergebracht wurden. Die wollten uns nicht und waren sehr ablehnend der Mutti gegenüber. Aber dann eroberten wir Kinder ihr Herz und sie waren sogar traurig, als wir weiterzogen.
Von Stettin aus gingen Flüchtlingszüge. Mit einem von ihnen gelangten wir nach Bad Kleinen. Den Weg von dort nach Wismar legte die Mutti mit uns wahrscheinlich zu Fuß zurück. Ich im Kinderwagen, Elke samt Gepäck ebenfalls dort darauf. Unterwegs wurden wir mehrmals von Tieffliegern überrascht. Mutti legte Elke und mich in einen Schützengraben und warf eine Decke über uns. Elke guckte heimlich darunter hervor und freute sich über das Lichtermeer am Himmel. Mich beschleicht beim schönsten Feuerwerk bis heute ein mulmiges Gefühl, der Böllerschüsse wegen.
Normalerweise hätte man uns wie die anderen Flüchtlinge aufs Land geschickt und in einem Dorf angesiedelt. Daher war es sozusagen ein »Glück«, dass meine Schwester Kinderlähmung hatte, denn mit ihr durfte Mutti in eine Stadt. Wer weiß, wie unser Leben sonst verlaufen wäre?
Drei Jugendfotos meiner Mutter
Ich kenne diese Zeit nur aus Erzählungen. Aber das Pillau-Lied hat Mutti gern gesungen. Später sangen wir es zweistimmig. »Es liegt eine Stadt am Baltischen Meer, die führt im Wappen den silbernen Stör …« Den Text kann man googeln, aber gesungen findet man dieses Lied nirgends. Ich muss es unbedingt aufnehmen. Meine Enkelin soll schließlich erfahren, was es nach den Dinosauriern noch so alles gab.
Meine Mutter Suselene Karin Zels wurde am 13. Juni 1915 in Pillau geboren. Für ihre Eltern war eine gute Schulbildung wichtig, aber das nächste Gymnasium befand sich in Königsberg. Von Pillau nach Königsberg ging es mit einer Fähre. Die wurde von einem Fährmann mit Muskelkraft gezogen, auch bei unerträglichen Minusgraden.
Da der Pillauer Hafen immer eisfrei war, fiel auch im tiefsten Winter keine einzige Schulstunde aus. Viel später meinte Mutti mal zu mir: »Wenn man als Mädchen damals schon Hosen hätte tragen können, das wäre so gut gewesen.« Die erste Frau, die lange Hosen trug, sah Mutti im Kino. Das war Marlene Dietrich.
Muttis Beschreibung unserer Flucht
Als Mädchen einen Beruf zu lernen, war damals nicht üblich. Die Ausbildung in Hauswirtschaft reichte, denn später fand man ja einen Mann und heiratete. Wollten Frauen arbeiten gehen, mussten sie ihren Mann um Erlaubnis bitten. Das setzte sich ja im Westen Deutschlands auch nach dem Krieg noch lange Jahre fort. Als ich das erfuhr, war ich als Ostmädel echt entsetzt.
1940 heiratete Mutti den Hoch- und Tiefbautechniker Horst Blankenstein. Sie war 26, als im Februar 1942 Elke zur Welt kam. Ich folgte als zweites Kind am 21. Dezember 1943.
Nach dem Krieg kam unser Vater nicht zu uns nach Wismar. Er hatte sich in München neu verliebt, ließ sich von Mutti scheiden, heiratete wieder und gründete eine neue Familie.
Als Oma Lina, Muttis Stiefmutter, viele Jahre später krank und dement wurde, zog Mutti zu ihr nach Bredenbek bei Rendsburg/Eckernförde. Das muss um 1978 herum gewesen sein. Sie stellte einen Ausreiseantrag, der ihr als Rentnerin ohne Probleme genehmigt wurde. Sie blieb dort bis zu Omas Tod. Dann zog sie nach Kiel und kehrte im Oktober 2000 wieder zurück nach Berlin.
Aber zurück nach Wismar, ins Jahr 1945. Wir bezogen ein Zimmer im Parterre, in der Alten Wismarschen Straße. Im Zimmer befand sich eine Kochplatte. Wir wuschen uns in einer Schüssel. Wasser gab es auf dem Flur in der Toilette, die von mehreren Familien genutzt wurde. Auch die Wäsche wurde dort eingeweicht, genau wie das Geschirr. Irgendwann war unser Kochtopf verschwunden – eine mittlere Katastrophe. Also bewahrte Mutti ab sofort immer alles in unserem einzigen Zimmer auf.
Irgendwann war auch ich verschwunden – morgens, als die Mutti wach wurde, war ich nirgends aufzufinden. Das Zimmer war von innen verschlossen, also ein Unding. Elke und Mutti suchten nach mir. Erst, als sie zum zweiten Mal unter das Sofa guckten, entdeckten sie mich. Ganz hinten an die Wand war ich gerollt und schlief tief und fest.
Ich schlief überhaupt sehr viel. Mutti meinte: »Das war dein Glück, denn du nahmst schlafend zu.« Zu essen gab es wenig, und vor allem galt Trockengemüse für uns als Delikatesse. Einmal hatte Mutti im Hof feuchtgewordenes, angeschimmeltes Trockengemüse in der Sonne zum Trocknen aufgehängt – und beobachtete später, wie ich danach angelte und