Eine schwierige Verwandtschaft
Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, in einem harmonischen Umfeld aufwachsen zu können. Das folgende Kapitel ist ein schwieriges. Aber auch dieses Kapitel gehört zu meiner Geschichte. Die Kindheitserinnerungen an meine Verwandtschaft sind geprägt von Lügengeschichten, unnötigen Auseinandersetzungen, Eifersucht und auch das Thema Gewalt war immer wieder präsent. Mein Großvater väterlicherseits, ein Patriarch alter Schule, hatte das Sagen und man hatte ihm blind zu gehorchen. Die Großeltern waren sehr kalt, gefühlslos – doch äußerlich versuchten sie immer, den Schein perfekt zu wahren.
Meine Eltern fügten sich viele Jahre und machten dieses Spiel mit: nach außen hin die feinen Leute, im Hintergrund alles andere als lieb und nett. Ich erlebte mehrmals Situationen, in denen Gewalt angewendet wurde. Ja, da gab es unzählige Momente in meiner Kindheit, die nicht in Ordnung waren. Man wusste es auch in meinem Heimatdorf Allschwil, aber niemand unternahm etwas dagegen. Meine Großeltern waren angesehene Leute, die man eben kannte. Auch meine Eltern getrauten sich noch nicht, gegen sie anzutreten.
Weil man es wusste und schwieg, wurde oft hinter unseren Rücken gemunkelt. Ich dachte mir überhaupt nichts dabei, mit kurzärmeligem T-Shirt herumzulaufen, obwohl meine Arme vom vielen Training beim Circus Basilisk recht geschunden aussahen und blaue Flecken aufwiesen. Als meine Schwester Stephanie und ich dann während eines Trainings wegen einer Kleinigkeit zur Kinderärztin mussten, entdeckte diese die Verletzungen und Wunden an meinen Armen. Sie schaute mich ganz ernst an: «Möchtest du mir etwas erzählen?» Nein, was sollte ich ihr denn erzählen? Sollte sie sich für den Zirkus interessieren? Oder für unschöne Erlebnisse mit meiner Lehrerin? «Du kannst mir wirklich alles sagen. Was hier drin gesprochen wird, fällt unter das Arztgeheimnis», meinte sie dann ernst, mit Blick auf meine Arme. Erst dann begriff ich und lachte: «Ach so, Sie meinen die Wunden und blutunterlaufenen blauen Flecken an den Armen? Das kommt vom Training. Sie dürfen mir gerne einmal zuschauen kommen, dann verstehen Sie, warum ich so aussehe.» Und Stephanie ergänzte: «Wir werden nicht misshandelt, da können Sie ganz unbesorgt sein.» Ich realisierte in dem Moment, dass die blauen Flecken an meinen Armen tatsächlich als Misshandlungen angesehen werden konnten. Von da an bevorzugte ich langärmlige T-Shirts.
Ich erinnere mich: Als ich noch ganz klein war und Stephanie und ich bei den Großeltern notfallmäßig übernachten mussten, erlebten wir mit, wie sich einer unserer Cousins aus Angst vor der Großmutter hinter dem Sofa versteckte. Als sie ihn entdeckt hatte, zerrte sie ihn an einem Bein hervor und schlug ihn. Er schrie und weinte verzweifelt. Stephanie und ich weinten mit ihm. In dieser Nacht konnte ich vor Angststarre kaum einschlafen, da Stephanie und ich in zwei getrennten Zimmern untergebracht worden waren. Es war eine endlose Nacht. Alleine im Dunkeln auf meiner Matratze am Boden. Ohne zu wissen, wie es meiner Schwester geht. Noch heute frage ich mich, weshalb man unsere Zimmer von außen abgeschlossen hatte. Zum Glück mussten wir danach nie mehr in diesem Haus übernachten.
In meiner Verwandtschaft war die Liebe nicht spürbar, da herrschten andere Regeln. Und dies, obwohl sie doch so perfekt waren – nach außen hin jedenfalls. Man besuchte regelmäßig den Sonntagsgottesdienst. Ja, nach außen die feine, nette Familie, nach innen das Gegenteil. Das war für mich überhaupt nicht miteinander vereinbar und davor wollte und musste ich mich distanzieren. Ich habe meine eigenen Ideen und Vorstellungen über Spiritualität, und auftanken oder inspirieren lasse ich mich liebend gerne in der Natur.
Welch wohltuende Erlösung, als meine Eltern dieses «familiäre» Band nach vielen – viel zu vielen – Jahren endlich lösten! Vielleicht verharrt man manchmal viel zu lange in einer Situation, auch wenn sie noch so schwer zu ertragen ist, bevor man sie loslässt und sich mutig und überzeugt ins Neue und Unbekannte aufmacht.
Manchmal macht es mich traurig, nicht zu wissen, wie es sich anfühlt, eine herzliche Oma oder einen fürsorgenden Opa zu haben. Wie schön wäre es doch gewesen, an dieser Stelle eine tolle Anekdote über meine Großeltern zu erzählen, um ihnen diese dann stolz vorlesen zu dürfen. Leider ist da keine in mir. Der Grund, warum ich dieses Kapitel mit euch teilen wollte, ist vielleicht schwer zu verstehen. Es geht mir nicht darum, meine Verwandtschaft an den Pranger zu stellen. Vergangenheit bleibt Vergangenheit und ich mache niemandem einen Vorwurf. Auch sie tragen ihre eigene Geschichte durchs Leben und diese wirkt sich in ihr Denken und Handeln ein. Ich schreibe dieses Buch aus der Motivation heraus, den Menschen Mut zu machen: «Befreit euch von Negativität und von Menschen, die nicht an euch glauben!» Wenn ich mit diesem Kapitel auch nur einer Person dabei helfen konnte, sich aus einer ähnlichen Situation zu befreien, war es mir das bereits wert.
Niveauwechsel auf eigene Faust
Vor dem Übertritt in die Oberstufe ins Schulhaus Breite in Allschwil war ich ins Niveau E eingeteilt worden, dem mittleren der drei. Von den Noten her hätte ich eigentlich ins Niveau P, das beste, eingeteilt werden müssen. Doch die Lehrerin wie auch der Schulpsychologe fürchteten, mich sonst zu überfordern – mich, den «Kleinen», den Sensiblen, den zu wenig reifen und für sie wohl auch nicht leicht zu handhabenden Schüler. Denen wollte ich es zeigen! Ich lernte, musste mich nicht mal allzu sehr anstrengen, und haute immer gute Noten heraus.
Einen großen Einfluss hatte gewiss auch meine Oberstufenlehrerin auf mich. In den vergangenen zweieinhalb Jahren war ich mit der damaligen Lehrperson auf Feindesfuß gewesen, hier an der Oberstufe durfte ich spüren, dass auch eine Lehrerin nett sein kann. Welch wunderbare Erfahrung! Frau Koller glaubte an mich, genauso wie meine Eltern, sie hatte Freude an mir und ließ mich dies auch sichtlich spüren. Das tat mir bis in die Seele hinein gut.
Mein Ziel war nicht das Niveau E, das mittlere, sondern P, das beste. Und nach einem Semester hatte ich meine Noten da, wo ich hinwollte. An einem Freitagabend, kurz vor Semesterschluss, klopfte ich daher an die Tür der Schulleitung, legte ihnen meine Noten vor und verkündete: «Ich bleibe nicht länger im Niveau E. Ich habe jetzt bewiesen, dass ich es kann, und würde gerne ins Niveau P wechseln.» Der Rektor zeigte sich sehr erstaunt über mein mutiges Auftreten, war aber sehr erfreut, wusste er doch über meine Geschichte in der Vergangenheit genau Bescheid.
Noch in derselben Stunde telefonierte er mit meinen Eltern, um sie zu informieren: «Ab Montag besucht Jason das andere Niveau, aber auf einer anderen Stufe.» Und weil ich durch den Niveauwechsel auch ein Jahr wiederholen musste, war ich auf einmal einer der Ältesten, fühlte mich stärker als die anderen und entwickelte mich zu einem selbstbewussten Jungen. Was für ein neues Lebensgefühl! Selbstbewusstsein – bisher ein Fremdwort für mich. Auf einmal war ich nicht mehr der Außenseiter und hatte tolle Freundinnen und Freunde. Teilweise wussten meine neuen Kollegen über meine Vergangenheit Bescheid, doch das war überhaupt nicht relevant. Noch heute erzählt man sich anscheinend im Dorf: «Weißt du, das ist der Junge, welcher in der Primar aus der Schule abgehauen und nicht wiedergekommen ist.» Toll, wenn man den Menschen dadurch in Erinnerung bleibt. Aber ist es nicht so, dass viele Menschen sich viel mehr mit Negativem umgeben als mit Positivem?
Jedenfalls überquerte ich noch Jahre später ungerne den Pausenplatz des früheren Schulhauses. Schlimme, beängstigende Gefühle kamen jedes Mal in mir hoch. Ich spürte noch lange nach, wie ich mich damals als kleiner Wurm gefühlt hatte. Manchmal spielte sich ein innerlicher Film ab und ich wünschte mir so sehr, ich könnte den Film nur einmal für einen kurzen Moment in die Zeit von damals zurückdrehen und mir zureden: «Du bist so viel wert. Du bist gut.» Ich würde dem früheren Ich gerne Mut zusprechen. Was geschehen ist, ist geschehen. Aber es ist nicht vorbei. Es ist in uns und prägt uns für die Zeit danach. Es kann den Menschen brechen oder weiterbringen. Mich hatte die Zeit sehr geprägt – und weitergebracht. Und irgendwann werde ich dieses Trauma verarbeitet haben. Irgendwann.