Führen Sie sich vor Augen, dass Sie allein wissen, was wirklich zu Ihnen passt und Sie erfüllt. Dann können Sie sich getrost von vermeintlicher Fremdbestimmung verabschieden und Sachzwänge oder unliebsame Details als notwendiges Übel akzeptieren. Konkret heißt das beispielsweise, dass Sie an Ihrem Arbeitsplatz auch Aufgaben übernehmen, zu denen Sie im Moment zwar wenig Lust haben, die aber dazu beitragen, Ihr übergeordnetes Ziel – etwa die Entfaltung Ihres professionellen Potenzials – zu verwirklichen. So rücken Sie die Perspektive zurecht und orientieren sich an langfristigen Bedürfnissen, auch wenn dazu manchmal die Überwindung momentaner Unlust gehört.
Selbstwirksamkeit erfahren
In meinem Alltag als Psychotherapeutin höre ich nicht selten folgende oder ganz ähnliche Aussagen: »Ach, wenn mein Chef weniger kritisch wäre, dann wäre ich viel glücklicher im Job« oder »Ich warte darauf, dass meine Mutter meine Leistungen endlich anerkennt« oder »Wäre meine Frau experimentierfreudiger, hätte ich viel mehr Spaß am Sex«. Mit solchen Sätzen wird die Verantwortung für die eigene Bedürfnisbefriedigung auf andere Menschen übertragen. Das macht auf Dauer hilflos und unzufrieden, ist aber zutiefst menschlich. Denn jeder Mensch lernt früh, dass er in ein soziales Netz eingebunden ist und seine Freiheit an der Freiheit des anderen endet. Nicht alles, was man sich wünscht, bekommt man – und bevor man dauerhaft frustriert ist, ordnet man die eigenen Bedürfnisse vielleicht lieber denen der anderen unter. Vielleicht haben Sie folgende oder ähnliche Sätze gelegentlich in Ihrer Kindheit und Jugend gehört:
Nimm dich nicht so wichtig.
Bescheidenheit ist eine Zier.
Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Der Esel nennt sich immer zuerst.
Solche Glaubenssätze sind oft tief verankert und bewirken, dass das Streben nach Selbstfürsorge sich anfangs falsch oder gar verwerflich anfühlt. Es scheint viel naheliegender zu hoffen, dass die anderen sich schon darum kümmern werden, dass Ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Und wenn sie es nicht tun, kann das eigentlich nur daran liegen, dass Sie nicht wertvoll oder liebenswert sind oder dass die Erfüllung Ihrer Wünsche Ihnen gar nicht zusteht. Schluss damit – ich lade Sie herzlich ein, sich von diesem Konstrukt zu verabschieden.
Sie allein sind dafür verantwortlich, dass es Ihnen gut geht und dass Ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Es ist weder egoistisch noch unverschämt, wenn Sie dafür sorgen, dass Ihr Leben lebenswert und beglückend ist! Warten Sie nicht darauf, dass andere Menschen sich verändern, dass Ihre Liebsten Ihre Wünsche erraten oder dass das Schicksal sich wendet, sondern übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Wohlbefinden und Ihre Persönlichkeitsentwicklung. Formulieren Sie Ihre Bedürfnisse zunächst deutlich für sich selbst, ordnen Sie sie ein und entscheiden Sie, was wann angemessen ist. Schaffen Sie innere Klarheit und Verbindlichkeit. Artikulieren Sie Ihre Bedürfnisse so, dass Ihre Mitmenschen verstehen, was Sie wollen und warum Sie bestimmte Dinge tun oder lassen. Anfangs stoßen Sie möglicherweise auf Widerstand, aber auf Dauer werden Sie wahrscheinlich ein leuchtendes Vorbild. Denn konsequente Selbstfürsorge macht glücklich und zufrieden, gelassen und stark. Und das ist nach außen deutlich sichtbar.
Begründen Sie, was Sie wollen und tun, aber verzichten Sie auf Rechtfertigungen. Sie sind nur sich selbst Rechenschaft schuldig. Gehen Sie auf Distanz zu Menschen, die Ihren Weg der Selbstfürsorge nicht verstehen oder Ihnen gar das Recht dazu absprechen. Knüpfen Sie ein Beziehungsnetz aus wohlwollenden und zugewandten Menschen.
Je öfter Sie erfahren, dass es gut und richtig ist, wenn Sie für Ihre Bedürfnisse einstehen, desto entspannter werden Sie, wenn es darum geht, eigene Wünsche und Ziele durchzusetzen. Sie merken, dass die Erde sich weiterdreht, auch wenn Sie nicht alle Anforderungen, die von außen an Sie gestellt werden, erfüllen. Vielleicht werden Sie von Ihren Mitmenschen sogar noch mehr geschätzt, wenn Sie nicht Ja und Amen zu allem sagen, sondern Ihren eigenen Weg gehen. Das Wissen, Probleme lösen und Herausforderungen meistern zu können, auch wenn es mal besonders schwierig oder anstrengend ist, erhöht die Selbstwirksamkeitserwartung: Darunter versteht man den Glauben, etwas bewirken und selbstständig handeln zu können. Die Selbstwirksamkeitserwartung gehört im AGIOH-Prinzip der Selbstfürsorge zum Werkzeug »Optimismus«. Denn sie basiert auf einer positiven Sicht auf die eigenen Fähigkeiten, die Welt und die Zukunft. »Das schaffe ich« sorgt für eine gelassene innere Haltung, mit der Sie tatsächlich alles schaffen, wovon Sie überzeugt sind.
Die Frustrationstoleranz erhöhen
Nicht alles klappt sofort und der Weg zu mehr Selbstfürsorge ist nicht immer geradlinig. Sie nehmen sich vor, sich aufmerksam um Ihre Bedürfnisse zu kümmern, und fallen doch immer wieder in alte Muster zurück. Seien Sie nicht böse auf sich, sondern achten Sie einmal darauf, wie es sich anfühlt, wenn Sie ein eigenes Bedürfnis leugnen, übergehen, missachten oder wegdrücken:
Sie spüren keine emotionale Veränderung, denn vielleicht sind Sie daran gewöhnt, Ihre Bedürfnisse hintanzustellen.
Sie sind kurz enttäuscht, dass keine Zeit für Ihr Bedürfnis bleibt, gehen dann aber zur Tagesordnung über. Vielleicht war das Bedürfnis nebensächlich?
Sie werden unruhig, denn das Bedürfnis ist Ihnen eigentlich sehr wichtig.
Sie sind frustriert oder traurig, weil das unbefriedigte Bedürfnis bedeutsam für Sie ist.
Sie fühlen sich müde und ausgelaugt, weil immer wieder die Bedürfnisse anderer im Vordergrund stehen.
Sie sind wütend: Warum immer erst die anderen?
Dieser Gefühle sind Wegweiser für Ihre Änderungsmotivation. Negative Gefühle zeigen Ihnen, dass etwas falsch läuft. Prüfen Sie, was Sie ändern, wie Sie besser auf sich achten und mehr Verantwortung für Ihre Bedürfnisse übernehmen können. Werden Sie aktiv, überwinden Sie Hindernisse und setzen Sie sich mit innerem und äußerem Widerstand auseinander. Prüfen Sie aber auch, unter welchen Bedingungen es sinnvoll ist, die Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben, ohne sich frustrieren zu lassen.
Die Fähigkeit, unbefriedigte Bedürfnisse zu ertragen, wird in der Kindheit geprägt. Babys können ihre Bedürfnisbefriedigung noch überhaupt nicht aufschieben: Wenn sie Hunger haben, die Windel nass ist, sie müde sind oder ihnen etwas wehtut, schreien sie so lange und ausdauernd, bis jemand kommt und das Problem löst. Mutterbrust oder Fläschchen, Windelwechsel, Schlaflied oder ein warmes Kirschkernkissen für den schmerzenden Bauch – und schon ist die Welt wieder in Ordnung.
Im Idealfall haben Sie als Säugling oder Kleinkind erfahren, dass es Menschen gibt, die Ihre Bedürfnisse ernst nehmen und Ihre Wünsche umgehend erfüllen. Später haben Sie das »Ich-Du-Konzept« entdeckt und haben gelernt, dass es Grenzen zwischen Ihnen und der Welt gibt. Ab diesem Punkt beginnt der lange Weg der Bedürfniskontrolle. Waren Ihre Eltern liebevoll und konsequent, dann durften Sie erleben, dass manche Bedürfnisse aufgeschoben werden können, ohne dass die Welt untergeht. Sie haben gespürt, dass es Bedürfnishierarchien gibt, dass Ihre Bezugspersonen (zumeist die Eltern) ebenfalls Bedürfnisse haben, dass aufgeschoben nicht aufgehoben heißt, dass die Mutter gute und böse Seiten hat, dass der Vater weggeht und wiederkommt, dass Bruder oder Schwester manchmal stören und manchmal Freude bereiten, dass ein knurrender Bauch nicht zum Hungertod führt, dass ein blutendes Knie verheilt, dass man auch mit Muskelkater noch Ball spielen kann, dass man Vokabeln lernen muss, um Englisch zu verstehen und so weiter und so fort. Kurz: Sie haben gelernt, dass es im Leben manchmal angenehm und manchmal unangenehm zugeht. Dieses Wissen ist die Basis der Frustrationstoleranz.
Kinder,