»Umso besser, wenn man niemals mit völliger Sicherheit sagen kann: Dies ist Arsène Lupin! Die Hauptsache ist, dass man ohne Furcht vor einem Irrtum sagt: Arsène Lupin hat das getan.«
Nach seinen vertraulichen Mitteilungen will ich versuchen, einige seiner Taten und Abenteuer wiederzugeben, so, wie er sie mir an langen Winterabenden in der Stille meines Arbeitszimmers freundschaftlich erzählte.
ARSÈNE LUPIN IM GEFÄNGNIS
Jeder gute Pariser Wanderer kennt die Ufer der Seine, und sicher ist jedem auf dem Weg von den Ruinen von Jumièges zu den Ruinen von Saint-Wandrille das seltsame kleine Feudalschloss des Malaquis aufgefallen, das so stolz auf seinem Felsen inmitten des Flusses steht. Eine Bogenbrücke verbindet es mit der Straße. Das Fundament seiner düsteren Türme verschwimmt mit dem Granit der Insel, einem gewaltigen Felsbrocken, von dem man nicht weiß, von welchem Gebirge er sich gelöst hat, und der durch irgendeinen großen Erdrutsch dorthin geworfen sein muss. Rundherum plätschert das ruhige Wasser des großen Flusses im Schilf, und Bachstelzen stolzieren auf den feuchten Steinen.
Die Geschichte des Malaquis ist ebenso düster wie sein Name, ebenso unfreundlich wie seine Silhouette. Hier gab es stets nur Kämpfe, Belagerungen, Bestürmungen, Plünderungen und Gemetzel. In den Spinnstuben der Landschaft Caux erzählt man mit prickelndem Grauen die Verbrechen, die hier begangen wurden. Da gibt es geheimnisvolle Legenden; man erinnert sich an den berühmten unterirdischen Gang, der einstmals zur Abtei von Jumièges und zur Burg der Agnès Sorel, der schönen Freundin Karls VII., führte.
In diesem alten Schlupfwinkel der Helden und Strauchdiebe wohnt der Baron Nathan Cahorn, der Baron Satan, wie man ihn früher an der Börse nannte, an der er sich zu plötzlich bereichert hatte. Die Herren von Malaquis, ruiniert wie sie waren, haben ihm für ein Butterbrot das Schloss ihrer Vorfahren verkaufen müssen. Dort hat er seine wunderbaren Sammlungen von alten Möbeln und Gemälden, Steingut und Schnitzereien untergebracht. Der Baron lebt allein in dem Schloss mit drei alten Dienstboten. Niemand hat es jemals betreten. Niemand hat jemals die Ausstattung dieser antiken Säle, die drei Rubens, die beiden Watteaus, seinen Stuhl von Jean Goujon und alle anderen Kostbarkeiten gesehen, die er den reichsten Stammkunden auf den Versteigerungen durch Überbieten entrissen hat.
Baron Satan hat Angst. Er hat nicht nur um seiner selbst willen Angst, sondern auch wegen seiner Schätze, die er mit zäher Leidenschaft und dem Scharfsinn eines Liebhabers gesammelt hat, dass sich die gewieftesten Händler nicht rühmen können, ihn betrogen zu haben. Er liebt sie. Er liebt sie so gierig wie ein Geizhals, so eifersüchtig wie ein Verliebter.
Jeden Tag bei Sonnenuntergang werden die vier eisengeschmiedeten Pforten, die sich am äußersten Ende der Brücke und am Eingang zum Schlosshof befinden, geschlossen und verriegelt. Bei der geringsten Berührung schrillt eine Alarmglocke durch die Stille. Von der Wasserseite der Seine her ist nichts zu befürchten, denn dort ragt der Felsen steil in die Luft.
An einem Freitag im September erschien der Briefträger wie gewöhnlich am anderen Ende der Brücke. Und wie jeden Tag öffnete der Baron den schweren Türflügel nur einen Spalt.
Er sah den Mann so genau an, als kenne er dieses gute, heitere Gesicht mit seiner Bauernschläue in den Augen nicht schon seit Jahren.
Der Mann lachte:
»Ich bin es immer noch, Herr Baron. Ich bin kein anderer, der vielleicht meinen Kittel und meine Mütze angezogen hat.«
»Kann man es wissen?« murmelte der Baron.
Der Briefträger gab ihm einen Stapel Zeitungen. Dann fügte er hinzu:
»Und jetzt, Herr Baron, habe ich eine Neuigkeit für Sie.«
»Eine Neuigkeit?«
»Einen Brief … und noch dazu einen eingeschriebenen.«
Einsam, ohne Freunde, ohne einen Menschen, der sich um ihn kümmerte, bekam der Baron niemals Briefe. Sofort erschien ihm dieser als das schlechte Vorzeichen irgendeines kommenden Ereignisses, über das sich zu beunruhigen er allen Grund hatte. Wer war dieser geheimnisvolle Schreiber, der ihn in seiner Ruhe störte?
»Sie müssen unterschreiben, Herr Baron.«
Leise fluchend unterschrieb er. Dann nahm er den Brief, wartete, bis der Briefträger hinter der Wegbiegung verschwunden war, und nachdem er einige Male auf und ab gegangen war, trat er hinter die Brüstung der Brücke und riss den Umschlag auf. Er enthielt ein quadriertes Blatt Papier mit dem handgeschriebenen Briefkopf: Gefängnis de la Santé, Paris. Er sah auf die Unterschrift: Arsène Lupin. Verstört las er:
»Sehr geehrter Baron Cahorn!
In dem Korridor, der Ihre beiden Säle miteinander verbindet, hängt ein Bildnis Philippes de Champaigne von ausgezeichneter Qualität, das mir sehr gefällt. Ihre Rubens sind auch nach meinem Geschmack, ebenso wie auch Ihr kleinerer Watteau. In dem rechten Saal weiß ich von dem Kredenztisch Ludwigs XIII., den Wandteppichen von Beauvais, dem kaiserlichen Leuchtertisch, mit ›Jacob‹ signiert, und der Renaissance-Truhe. In dem Saal auf der linken Seite finde ich die Vitrine mit den Schmuckstücken und den Miniaturen.
Dieses Mal werde ich mich mit den Gegenständen zufriedengeben, die, wie ich glaube, leicht zu verkaufen sind. Ich möchte Sie darum bitten, sie entsprechend zu verpacken und portofrei innerhalb von acht Tagen auf meinen Namen zum Bahnhof Batignolles zu schaffen. Sollten Sie meiner Bitte nicht nachkommen, werde ich selbst in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag, dem 28. September, ihren Abtransport vornehmen. Und dann werde ich mich nicht – Gerechtigkeit muss sein – nur mit den oben erwähnten Gegenständen zufriedengeben.
Bitte entschuldigen Sie die kleine Störung.
Hochachtungsvoll Arsène Lupin
PS. – Bitte schicken Sie auf keinen Fall den größeren der beiden Watteaus. Obgleich Sie für ihn bei der Versteigerung dreißigtausend Francs bezahlt haben, ist es nur eine Kopie, das Original wurde unter dem Direktorium von Barras an einem Orgienabend verbrannt. Prüfen Sie diese Angabe in den noch nicht erschienenen Memoiren von Garat nach.
Ich lege auch keinen Wert auf die Gürtelkette Ludwigs XV., deren Echtheit mir fragwürdig erscheint.«
Dieser Brief erschütterte Baron Cahorn. Hätte ein anderer ihn unterschrieben, hätte er sich schon beträchtlich beunruhigt, aber Arsène Lupin!
Als eifriger Zeitungsleser und somit auf dem Laufenden über dies, was sich in der Welt an Diebstählen und Verbrechen zutrug, kannte er alle Heldentaten des verteufelten Einbrechers. Natürlich wusste er, dass Lupin in Amerika von seinem Feind Ganimard verhaftet und hinter Schloss und Riegel gesetzt worden war und dass man – mit welcher Mühe! – seinen Prozess vorbereitete. Aber er wusste auch, dass man bei ihm auf alles gefasst sein musste. Außerdem war diese genaue Kenntnis des Schlosses, der Plätze der Gemälde und Möbel eine furchtbare Bedrohung. Wer hatte ihn über diese Dinge unterrichtet, die doch niemand je gesehen hatte?
Der Baron hob den Blick und betrachtete die schroffe Silhouette des Malaquis, seinen abschüssigen Sockel, das tiefe Wasser, das ihn umgab, und zuckte mit den Schultern. Nein, es bestand ganz entschieden keine Gefahr. Kein Mensch auf der Welt konnte bis zum unantastbaren Heiligtum seiner Sammlungen vordringen.
Niemand, gut, aber Arsène Lupin? Gibt es für Arsène Lupin Türen, Zugbrücken, Mauern? Wozu dienen die so kunstvoll eingerichteten Hindernisse, die geschicktesten Vorsichtsmaßnahmen, wenn Arsène Lupin beschlossen hat, das Ziel zu erreichen?
Am gleichen Abend noch schrieb Baron Cahorn an den Staatsanwalt von Rouen. Er legte den Drohbrief bei und forderte Schutz und Hilfe.
Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Da der besagte Arsène Lupin gegenwärtig in der Santé festgehalten und sorgfältig überwacht wurde und somit nicht in der Lage war, Briefe zu schreiben, konnte dieser Brief nur das Werk eines Spaßvogels sein. Alles bewies diese Annahme, die Logik, der gesunde Menschenverstand und auch die Tatsachen selbst. Vorsichtshalber hatte man jedoch einen Sachverständigen beauftragt, die Handschrift zu begutachten. Dieser hatte