Der Seelenwexler. Kaspar Wolfensberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kaspar Wolfensberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783037600306
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beiden Buben aus Marokko. Um mit ihnen in Kontakt zu kommen, brach er eine Kissenschlacht vom Zaun, auf die sich die beiden lachend einliessen. So lange, bis Tante Heidi auftauchte und für Ruhe sorgte. In der folgenden Nacht blieb die Kissenschlacht aus, dafür führte der gelenkige Driss, nackt bis auf die weissen Unterhosen, vor dem Lichterlöschen einen afrikanischen Tanz auf. Khalid schlug den Takt. Er klatschte in die Hände, trommelte auf den Boden und auf seine schwarzen Schenkel. Lukas war hingerissen. Jeden Samstag wurde gebadet, die Kinder wurden zu zweit in die Badewanne gestellt und von Tante Heidi abgeschrubbt. Nach dem Schrubben war Plantschen im Schaumbad erlaubt. Lukas drängte sich vor, um mit Khalid in die Badewanne gestellt und geschrubbt zu werden. Er konnte sich an dem nackten schwarzen Körper kaum sattsehen. Lachend spritzten sie sich gegenseitig an. Lukas setzte Khalid eine Schaumkrone auf. Sie standen auf und guckten zusammen in den beschlagenen Spiegel. Lukas rieb mit der Hand ein Fenster und sah das schöne, schwarze Negergesicht, breit lachend unter der weissen Haube. Daneben sein eigenes, beschämend bleich, im Dampf und vor Bedeutungslosigkeit verschwindend. Sie setzten sich wieder in die Wanne, schubsten sich herum und versuchten, sich gegenseitig unter Wasser zu drücken. Lukas konnte es kaum fassen: Er hatte einen Neger zum Freund! Dass es sich bei den Brüdern um Söhne aus wohlhabendem Haus handeln musste und überdies um Städter, nicht um Wilde, darüber machte er sich keine Gedanken. Für ihn waren es zwei Buben aus Afrika, zwei echte Neger. Längst hatte Khalid seine Avancen erwidert. Er setzte sich bei Tisch neben ihn und kletterte nach dem Essen mit ihm in die Baumhütte hinauf. Die drei Wochen Sommerferien vergingen wie im Flug. Mit einem einzigen Satz verabschiedeten sich die zwei Freunde: «Tu es mon ami», hatte Lukas zum Schluss sagen können. Während Wochen, wenn nicht Monaten, wurde er von einem grenzenlosen Heimweh nach Khalid geplagt. Sie hatten nicht daran gedacht, Adressen auszutauschen, und so hoffte Lukas einfach, dass Khalid irgendwann auf wundersame Weise wieder auftauchen würde.

      Diese Begegnung hinterliess bei Zangger eine Voreingenommenheit für schwarze Menschen. Ein echtes Vorurteil, nur mit positivem Vorzeichen. Es machte es ihm schwerer, nicht leichter, unbefangen mit dunkelhäutigen Patienten zu arbeiten. Und ausgerechnet jetzt musste dieser Johnathan Achebe wieder in seiner Sprechstunde auftauchen.

      Achebe war eine Nervensäge. Ein Jammerlappen, den Zangger schon früher während eines Jahres behandelt hatte. Ohne nennenswerten Erfolg, wie sich jetzt herausstellte. Sohn eines Nigerianers, der irgendwann auf Nimmerwiedersehen verschwand, und einer Schweizerin, die ihn als allein erziehende Mutter aufgezogen hatte. Achebe war vierundzwanzig und konnte noch kaum einen persönlichen Erfolg vorweisen. Zwar hatte er mit Ach und Krach an einer Privatschule, deren Schulgeld sich seine Mutter am Mund absparte, die Matura bestanden, aber danach brachte er nichts mehr zustande. Er schrieb sich an der Uni ein, doch legte er keine Prüfungen ab, nahm keine Freizeitjobs an, pflegte keine Freundschaften. Er bezeichnete sich selbst bei jeder Gelegenheit als Versager, als dümmer, unwichtiger und unattraktiver als andere, seine Gesellschaft als uninteressant und sein Leben als sinnlos. Er hatte einen echten Minderwertigkeitskomplex. Dabei war seine dunkle Hautfarbe nur noch das Tüpfchen auf dem i, das seine sowieso schon gefühlte Minderwertigkeit noch unterstrich. Widerspruch oder Zuspruch halfen nichts, es musste ihm schlecht gehen – das war die einzige Lebensform, mit der er seiner Überzeugung nach Beachtung und Zuwendung, und sei es bloss von seiner Mutter und seinen Ärzten, ergattern konnte.

      Hätte Zangger tief in seiner Seele geforscht, so hätte er festgestellt, dass er von Achebe ganz einfach enttäuscht war. Ein neurotischer Afrikaner!, das gabs doch gar nicht. Das beleidigte sein Afrikabild. Er hatte mausarme, verwahrloste, hungernde Afrikaner gesehen. Traumatisierte, Invalide und Kranke, auch Geisteskranke. Aber keine neurotischen. Amerikaner waren neurotisch. Und Europäer, ganz klar. Aber Afrikaner doch nicht! Eines wusste er: Um Achebe nachhaltig behandeln oder gar heilen zu können, hätte es therapeutischen Biss gebraucht. Und den hatte er verloren. Er hatte schlicht nicht die Energie dazu. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Johnathan Achebes Behandlung vorläufig auf Eis zu legen. Er wies ihn an, im Notfall auf seine Website zu gehen, dort seien seine Ferienvertreter aufgeführt, sollte er jemanden brauchen.

      9.

      «Sie gehen schon?», fragte Seidenbast und sah auf die Uhr.

      «Ja. Ein Arzttermin», erwiderte Phil.

      Arzttermin stimmte sogar, aber dass er bei diesem Termin nicht der Patient, sondern der Arzt war, wollte er seinem Boss nicht auch noch unter die Nase reiben. Phil war schon fast bei der Tür. Jetzt blieb er einen Augenblick stehen und wandte sich um. Seidenbast stand mit einem Buch in der Hand an einem Bücherregal und betrachtete ihn nachdenklich.

      Was hat er?, dachte Phil.

      Phil war es gewohnt, dass man ihn länger als andere ansah. Und dass man sich auf der Strasse nach ihm umdrehte. Gewöhnlich hielt er den Blick der andern Person fest, bis diese, leicht verlegen, sich abwandte oder den Blick senkte. Seidenbast löste seinen Blick nicht von ihm. Er sah ihn unverwandt an. Phil war es, der sich abwandte, er war eine Spur verlegen.

      Dieser Blick!, dachte er, als er auf der Strasse stand. Es war kein vorwurfsvoller Blick gewesen. Auch kein aufdringlicher. Er hatte eher eine Art Neugier in Seidenbasts Augen gesehen. Täuschte er sich oder lag auch eine Spur Faszination darin? Hatte ihn das in Verlegenheit gebracht? Seidenbast hatte ihm mehr als einmal gesagt, dass er seine Hilfe im Geschäft schätze. Er bedankte sich jedes Mal, wenn Phil etwas erledigt hatte oder ihm eine Problemlösung vorschlug. Doch das konnte unmöglich der Grund für einen solchen Blick sein. Nein, schloss Phil, die Faszination galt seiner Person. Gut, vielleicht seinem Äusseren, aber das war ja ein- und dasselbe. Dass Seidenbast gay war, war Phil von Anfang an klar gewesen. Egal. Dieser angesehene Buch- und Weinhändler fand Gefallen an ihm. Dieser souveräne, selbstsichere, hochgebildete und nicht unansehnliche ältere Herr, dem alle Welt auserlesenen Geschmack attestierte, schien von ihm fasziniert zu sein. Das war eine Kostbarkeit, der musste er Sorge tragen.

      Ich darf ihn auf keinen Fall enttäuschen, dachte Phil.

      Jetzt bereute er, dass er sich mit Wexler vorgestellt hatte. Das liess sich nun nicht mehr richtigstellen, er musste dabei bleiben. Wenn er diesen völlig unnötigen Schwindel jetzt gestehen würde, wäre Seidenbasts Enttäuschung bestimmt grenzenlos. Froh war Phil dagegen, dass er sich nicht hatte dazu hinreissen lassen, den wahren Grund dafür zu nennen, weshalb er keine Abend- oder Nachtschicht einlegen konnte. Das Handicap würde ja in wenigen Wochen wegfallen.

      «Können wir das nach Ladenschluss besprechen?», schlug Seidenbast kürzlich vor. Phil hatte ihm den Entwurf einer Website für Buch&Wein vorgelegt.

      «Geht leider nicht», sagte Phil. «Ich bin verabredet.»

      «Macht nichts. Dann morgen Abend?»

      «Bedaure», wand sich Phil, «aber ich kann abends eigentlich fast nie.»

      «Fast? Dann sagen Sie mir, wann es geht.»

      «Gar nie, tut mir leid.»

      «Sie können abends nie?» Seidenbast klang mehr verwundert als enttäuscht. «Schade. Wieso denn nicht? Ausnahmsweise?»

      «Nun, ich muss …», setzte Phil an.

      «Lassen Sie», unterbrach ihn Seidenbast. «Wir hatten einen halben Tag vereinbart. Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig.» Das war vor acht Tagen gewesen.

      Linda Larsson sass schon im Café am Hottingerplatz. Phil hatte es angemessen gefunden, einen Treffpunkt in der Nähe von Zanggers Praxis zu wählen. Er hatte sich gehütet, zu fragen, ob ihr der Ort passe, es sollte nicht nach einem Rendezvous aussehen.

      «Wo drückt der Schuh?», fragte er, als sie ihr Lemonsoda und er seinen Macchiato vor sich hatten. Das Café war fast leer. Er war sich ziemlich sicher, dass es nichts Gravierendes sein konnte. So ähnlich wie bei mir, dachte er, sie sieht ja ganz gesund aus. Gesund und sexy. Depro oder schizo oder so was ist sie bestimmt nicht.

      Sie sei wegen Panikattacken bei Doktor Zangger in Behandlung, sagte sie.

      Panikattacken?, dachte er, super. Er hätte ihr aus dem Stegreif ein paar Beruhigungsmethoden vorschlagen können. Zur Sicherheit würde er sich auf dem Internet über dieses Problem schlaumachen.

      Sie