Phil stand von seiner Pritsche auf, ging ein paar Mal in seiner Zelle auf und ab und setzte sich an den kleinen Tisch vor dem vergitterten Fenster. Er nahm «Psychologie Heute» zur Hand und blätterte es durch. Der Artikel über Stresshormone und Depression interessierte ihn nicht besonders. Derjenige über Neues zur Menopause noch weniger. Da fand er den Beitrag im Spiegel über Tantrische Sexualität schon anregender. Den Test «Sind Sie ein guter Liebhaber?» würde er am Wochenende machen, da musste er jeweils viel Zeit totschlagen.
In sechs Wochen, das stand fest, würde er draussen sein. Dann wäre Schluss mit den brasilianischen Girls, die konnte er sich gar nicht mehr leisten. Dann würde er eine Freundin haben. Und die würde Linda heissen. Da brauchte er natürlich eine eigene Wohnung. Um sich die leisten zu können, benötigte er einen gut bezahlten Nebenjob, und zwar sofort. War im heutigen Tages-Anzeiger nicht eine Kleinannonce gewesen, die er sich angekreuzt hatte? Er griff nach der Zeitung und schlug sie auf:
«Student oder Doktorand mit EDV-Kenntnissen gesucht. Vielseitige, anspruchsvolle Tätigkeit. Halbtags oder abends. Buch&Wein, das Fachgeschäft im Seefeld.»
6.
«Ich muss dir etwas sagen», sagte Tina beim Abendessen.
«Ja?», machte Zangger und legte seine Gabel auf den Teller.
«Es ist nicht sicher, ob ich mit dir nach Schottland komme.»
«Wie bitte?», brachte er nur heraus.
«Es tut mir leid, Luc», sagte sie und hob entschuldigend die Hände. «Wir müssen vielleicht umdisponieren. Das kommt jetzt bestimmt unerwartet: Afrika statt Schottland.»
«Afrika?!»
Er hatte immer eine Afrikareise machen wollen, Tina hatte auf Schottland bestanden. «Ist das dein Ernst?», rief er. Sein Herz tat einen Freudensprung. «Das mit dem Umdisponieren wird aber nicht ganz einfach sein», wandte er ein. «Wir müssen die ganze Planung von vorne beginnen.»
«Nicht wir», erwiderte Tina. «Ich. Ich fliege, so wie es aussieht, nach Afrika. Nicht mit dir, tut mir leid. Allein. Und es ist keine Ferienreise», sagte sie. «Es ist ein Notfall.»
Zangger konnte es kaum fassen.
Der Tag hatte angefangen wie jeder andere. Tina hatte ihren Ausschlafmorgen und war liegen geblieben. Zangger hatte mit Tom gefrühstückt. Dann war er in seine Praxis gefahren. Vormittags hatte er Sprechstunde gehabt. Um acht war ein neuer Patient gekommen, ein Rechtsanwalt mit Panikattacken. Um neun war Frau Zindel an der Reihe gewesen.
Frau Zindel hatte sich darüber beklagt, dass man ihre Wohnung wieder durchsucht habe: Die Zahnpasta sei andersherum im Glas gestanden, das habe sie sofort gemerkt. Man sei ins Zimmer ihres verstorbenen Manns eingedrungen. Dort ständen alle Sachen seit seinem Tod, seit zwölf Jahren also, am gleichen Platz, und niemand ausser sie selber dürfe das Zimmer betreten. Aber was habe sie feststellen müssen? Auf dem Kissen auf seiner Couch hätten Haare gelegen. Frau Zindel öffnete ihre Handtasche, zog einen Briefumschlag heraus, entnahm diesem ein unsichtbares Etwas, platzierte es auf ihrer Handfläche und streckte Zangger die Hand entgegen. Er musste sich vorbeugen. Auf Frau Zindels Hand entdeckte er ein graues Haar. Frau Zindel war eine früh ergraute Witwe.
Ob das Haare seien oder nicht, wollte Frau Zindel wissen.
Zangger bestätigte, dass er ein Haar auf ihrer Hand sehe.
Eben, antworte Frau Zindel, da habe er den Beweis dafür, dass sich jemand auf die Couch gelegt habe. Aber da sei noch etwas: Jemand habe Treuemarken in ihr Markenheft eingeklebt.
Was daran schlimm sei, wollte Zangger wissen.
Verkehrt eingeklebt, ereiferte sich Frau Zindel. Coop-Marken ins Treuebüchlein der Drogerie! Und noch etwas: Die Säume ihrer Vorhänge lägen drei Zentimeter höher als zuvor. Ihre Vorhänge hätten bis zum Fenstersims gereicht, jetzt habe es zwischen Sims und Saum eine Lücke. Die sei früher nicht gewesen. Die Vorhänge seien eingegangen, wie übrigens auch ihr beiges Wolljäckchen. Jemand habe die Sachen in ihrer Abwesenheit gewaschen. Kaputtgewaschen, präzisierte sie. Aber das sei noch nicht alles: Es habe Kratzer auf dem Küchentisch.
Zangger schickte sich an, etwas zu sagen.
Nein, keine alten Kratzer, kam ihm Frau Zindel zuvor. Sie könne sie sehr wohl von den Kratzern unterscheiden, die von ihrer Arbeit am Küchentisch herrührten. Es seien frische Kratzer und sie seien absichtlich gemacht worden. Mit einer Nagelfeile oder vielleicht mit einer Nagelschere. Gestern oder vorgestern Nacht, als sie schlief. Ob er jetzt sage, sie habe Wahrnehmungsstörungen, wie ihr letzter Psychiater.
Nein, sagte Zangger, nicht Wahrnehmungsstörungen.
Gut, dann solle er das bitte der Polizei sagen. Als sie gestern nämlich Anzeige habe erstatten wollen, habe man ihr gesagt, sie solle besser einen Psychiater aufsuchen.
Zangger sagte, er nehme an, sie habe völlig zutreffende Beobachtungen gemacht. Nur glaube er, dass es dafür andere Erklärungen gebe.
Er glaube ihr also nicht, fragte Frau Zindel ärgerlich. Dann habe sie auch kein Vertrauen mehr, sagte sie, raffte ihre Sachen zusammen und stand von ihrem Sessel auf.
Zangger lud sie ein, wieder Platz zu nehmen. Er könne sich einfach nicht vorstellen, setzte er ihr auseinander, dass jemand sie auf diese Weise plagen wolle. Sie sei doch ein friedfertiger und liebenswürdiger Mensch. Das verstehe sie eben auch nicht, sagte sie kopfschüttelnd. Ihre aggressive Stimmung war nicht mehr spürbar. Dass sie sich gestresst fühle, könne er gut verstehen, sagte Zangger weiter. Diese Dinge würden ihre Nerven natürlich arg strapazieren. Allerdings, bestätigte Frau Zindel, aber er solle ihr ja nicht wieder mit seinen Medikamenten kommen. Sie habe sein Rezept zwar in der Apotheke eingelöst, aber schlucken werde sie die Pillen nicht.
Zangger war sich ziemlich sicher, dass der Frau mit dem verschriebenen Neuroleptikum zu helfen wäre. Aber für heute war sein Versuch, Frau Zindel doch noch zur Einnahme dieser Pillen zu bewegen, von der Patientin selber im Keim erstickt worden. In anderen Fällen war er auch schon resoluter vorgegangen. Doch Frau Zindel war kein Notfall, es gab keinen Grund, sie zu einer medikamentösen Behandlung