Unterlegenheit wird dann durch den Versuch überdeckt, sich überlegen zu fühlen, die Unterlegenheit abzuwehren. Manchmal fühlt ihr euch dann allen überlegen. Aber das ist auch kein wirkliches Gefühl; es ist der Versuch, ein anderes Pseudogefühl zu verbergen. Und wenn dann jemand etwas tut oder sagt und ihr euch unterlegen fühlt, dann werdet ihr auf ihn wütend. Stimmts? Das ist wieder ein Pseudogefühl. Und alle diese Pseudogefühle kommen auf, weil ihr nicht mit dem wirklichen Gefühl wirklichen Wertes in Kontakt seid. Es sind Kompensationen. Alle diese Schichten von Pseudogefühlen sind die Folge davon, daß ihr von eurem wirklichen Wert abgeschnitten seid. Sie sind insofern wirklich, als ihr sie fühlt. Aber insofern sie eine Folge des Verlustes von dem sind, was wirklich ist, sind sie nicht wirklich. Das ist eine wichtige Unterscheidung. Wenn ihr von einem wirklichen Gefühl abgeschnitten seid, versucht etwas anderes seinen Platz einzunehmen: die Emotionen. Wenn ihr diese Emotionen fühlt, könnt ihr dadurch also zu einem Verstehen gelangen; ihr könnt dahin gelangen, daß ihr seht, was ihr verloren habt und es erfahren. Wenn ihr das wirkliche Gefühl von wirklichem Wert erfahrt, dann werdet ihr sehen, daß es sich sehr von den Pseudogefühlen unterscheidet, die den Verlust verdeckten und schützten. Emotionen sind Reaktionen, während essentielle Zustände, wie Selbstwertgefühl, Zustände des Seins sind. Sie sind keine Reaktionen.
S.: Wenn man also diese Pseudogefühle, diese Emotionen hat, was ist letztlich darunter? Was ist die Essenz?
A.H.: Was in diesem Fall auf dem Grund von Unterlegenheit, Überlegenheit, Wut und Verletztheit ist, ist der wirkliche Wert selbst, der ein bestimmter Aspekt von Essenz ist. Habt ihr Plato gelesen? Erinnert ihr euch an die Platonischen Ideen oder die Platonischen Formen? Sokrates hat gesagt, daß niemand einen je die Formen lehren kann. Die einzige Möglichkeit, von ihnen zu wissen, besteht darin, sich an sie zu erinnern, weil man sie verloren und eine Erinnerung an sie hat, obwohl man sich dessen vielleicht nicht bewußt ist. Dadurch daß man die Erinnerung wiedererlangt, gelangt man zur Idee. Und wohin man zurückkehrt, das sind nicht Emotionen: man kommt zu seiner Essenz zurück. Essenz ist etwas so Reales wie euer Blut. Sie ist keine Reaktion. Aber wir brauchen Emotionen. Wir müssen uns unserer Emotionen bewußt werden, damit wir unsere Essenz verstehen und erkennen; Emotionen sind ein Führer und zeigen dahin, wo Essenz verloren wurde. Verstehen der Emotionen kann dabei helfen, die Knoten der Abwehrmechanismen zu lösen, mit denen wir die Erfahrung der Löcher vermeiden, und die unsere Trennung von Essenz aufrechterhalten. Manche Menschen jedoch sind nicht einmal mit ihren Emotionen in Kontakt. Sie sind nicht nur von ihrer Essenz, sondern auch von ihren Emotionen abgeschnitten. Sie sind sehr weit von sich selbst entfernt. Sie haben nur ihre Gedanken, die die Ergebnisse der Emotionen sind.
Auf folgende Weise können wir also uns selbst verlieren und dahin gelangen, uns dann hauptsächlich mit unseren Gedanken zu identifizieren: Erst ist da die Essenz, dann der Verlust der Essenz, dann die daraus resultierenden Emotionen, dann der Verlust der Emotionen oder der Konflikt um sie, der alle möglichen Arten von Gedanken entstehen läßt.
Die meisten Menschen fragen sich, wenn man keine Emotionen fühlt, was fühlt man dann? Je mehr ihr Essenz fühlt, um so weniger fühlt ihr Emotionen. Ihr werdet noch Empfindungen haben, und sie werden tiefer und stärker sein; aber wenn ihr Essenz fühlt, werden eure Emotionen nicht tiefer und stärker sein. Eine Emotion ist nur eine Reaktion der Nervensystems. Essenz ist nicht eine Reaktion des Nervensystems. Da ist etwas da, das euch füllt. Ein Teil von euch ist präsent. Manche nennen die essentiellen Aspekte die „wirklichen Gefühle“. Aber was man gewöhnlich Gefühle oder Emotionen nennt, ist nicht Essenz. Liebe, Frieden, Wert, Stärke und Wille sind Aspekte von Essenz. Das ist die Art von Ding, die ihr erfahrt. Sie sind Essenz. Anstatt Wut zu erfahren, erfahrt ihr Stärke, ruhige Stärke; anstatt sich überlegen oder unterlegen zu fühlen, erfahrt ihr Wert; ihr erfahrt euch selbst als eine abgerundete Präsenz, die voll und stark ist.
S.: Die Arbeit selbst füllt eine Menge meiner Löcher aus, und zwischen den Zeiten, die wir hier arbeiten, fange ich an, Panik zu fühlen. Ich glaube, das Gefühl der Fülle, das ich mit der inneren Arbeit habe, ist qualitativ davon verschieden, wenn ich mich mit einem anderen Menschen fülle. Auch gibt mir die Arbeit, die ich hier tue, die Sicherheit, die Leere zu fühlen. Oft kommt das Gefühl der Fülle, das ich von der inneren Arbeit habe, gleich nachdem du mir geholfen hast, mich sicher genug zu fühlen, daß ich das Loch fühlen kann.
A.H.: Ja. Die Situation der inneren Arbeit hier ist ein wenig komplizierter als normale Situationen. Was ihr in der Außenwelt tut, könnt ihr auch mit der inneren Arbeit tun. Menschen versuchen tatsächlich, ihre Löcher damit zu füllen, daß sie hier sind. Aber da gibt es auch die andere Seite, die darin besteht, daß die innere Arbeit selbst darauf ausgerichtet ist, die Mängel, die Löcher zu erfahren, und nicht nur die Fülle.
Die zwei Prozesse gehen hier zusammen, Hand in Hand. Zwischen den Zeiten, zu denen wir uns hier treffen, fühlt ihr, daß ihr diese Fülle wieder verliert. Gut, wenn die Fülle daher kam, daß ihr die innere Arbeit dazu benutzt habt, das Loch auf die übliche Weise zu füllen, dann könnt ihr ihren Verlust genau wie den Verlust von irgendetwas anderem nutzen und erkennen, was ihr verloren habt und versuchen, das Loch zu erfahren, um es zu verstehen.
Menschen benutzen hier oft die innere Arbeit, um ein bestimmtes Loch zu füllen, einen bestimmten Mangel auszugleichen. Man fühlt vielleicht: „Ich bin in einer Gruppe von intelligenten, aufrichtigen Leuten, die die Wahrheit suchen; ich muß wunderbar sein.“ Später gehen natürlich alle nachhause. Dann fühlt man: „Vielleicht bin ich eigentlich gar nicht so wunderbar.“ Laßt euch dann dieses Loch erfahren, um es zu verstehen. Zu anderen Zeiten jedoch können andere Prozesse in der Arbeit der Gruppe euch dahin führen, daß ihr euch voll fühlt: die allgemeine Präsenz einer bestimmten wirklichen Fülle, die euch mit eurer eigenen Fülle in Kontakt bringt. Dann nach einer Woche, wenn ihr noch nicht so tief damit in Kontakt seid, werdet ihr euch ihrer bewußt und stellt sie in Frage. Das ist ein anderer Prozeß. Vielleicht habt ihr euch voll gefühlt, ohne zu verstehen, was geschah, oder es gibt andere Themen, die freigelegt und durchgearbeitet werden müssen, damit ihr die Fülle behalten könnt.
Aber die Fülle der inneren Arbeit ist nicht dieselbe wie die Fülle, die Menschen erfahren, wenn sie ihre Löcher füllen. Die Erfahrung, die man hat, wenn man ein Loch füllt, wird gewöhnlich nicht wirklich als Fülle erfahren. Ihr erfahrt keine Fülle, wenn jemand eure Löcher füllt. Es fühlt sich immer wacklig und nicht wirklich befriedigend an. Es fühlt sich wie eine vorübergehende Erleichterung an. Da ist ein Gefühl von Gier, von Festhalten; ihr möchtet nicht, daß der andere weggeht. Ihr möchtet nicht, daß er seine Art ändert, wie er sich euch gegenüber verhält. Auf einer tiefen Ebene ist es in Wirklichkeit eine Blockierung, nicht Offenheit. Die Fülle der inneren Arbeit hingegen ist die Abwesenheit von Blockierung.
Manchmal kommen bei dieser Arbeit eine Menge Löcher auf einmal ans Licht. Es kann also ein bißchen verwirrend sein. Stimmts? Gewöhnlich werden am Anfang, wenn jemand zum erstenmal zur inneren Arbeit in die Gruppe kommt, viele Löcher auf einmal erfahren. Der Zweck der Arbeit ist, die Löcher freizulegen und den Menschen aus seinem Inneren heraus mit diesen Löchern umgehen zu lassen. Wir versuchen nicht, Löcher von außen zu füllen.
Wir könnten hier leicht alles mögliche tun, um Leuten wunderbare Erfahrungen zu vermitteln. Wir könnten Meditationen und bestimmte Übungen veranstalten, und alle könnten wunderbare Dinge fühlen. Die würden aber nicht bleiben, bevor man nicht wirklich mit seinen Mängeln, seinen Löchern konfrontiert wird und durch sie hindurchgeht. Es ist kein einfacher und auch kein kurzer oder leichter Prozeß. Es braucht Zeit und eine Menge Anstrengung. Ein Loch zu erfahren und nicht aus dem Mangel heraus zu handeln, ist wegen des mächtigen Triebs, es zu füllen, sehr schwer. Manchmal habt ihr das Gefühl, als ginge es um Leben und Tod.
S.: Als ich heute morgen draußen frühstückte, habe ich gemerkt, was für ein großes Loch die Kellnerin füllte.
A.H.: Ja. Viele Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt damit, daß sie die Löcher anderer Menschen füllen. Viele Berufe sind dazu da, die Löcher von Menschen zu füllen. Ich habe keine moralistische Haltung gegenüber dem Füllen von Löchern. Ich denke nicht, daß es eine Sünde oder daß es schlecht ist.