Das macht es dann möglich, zur dritten Stufe zu gelangen, auf der sich das Identitätsgefühl vom Ego zu Essenz verschiebt. Das erste Buch dieser Serie konzentrierte sich auf die erste Stufe und das zweite Buch auf die zweite. Im vorliegenden Band geht es vor allem um die dritte Stufe, die eigentliche Selbstverwirklichung. Es geht hier nicht um die verschiedenen Mängel, Konflikte und Sehnsüchte der Persönlichkeit, sondern um das Selbst und die Identität. Es geht darum zu sehen, daß es immer noch Identifikation mit dem Ego gibt, auch wenn Essenz entdeckt und als das verstanden ist, was sie ist. Auf dieser Stufe hat man mehr mit dem Thema zu tun, daß man ein Wesen (entity) ist, welches Essenz erfährt, als mit der Entdeckung, daß Essenz das eigentliche Selbst und die eigentliche Identität ist.
Diese Verschiebung der Identität verlagert das eigene Zentrum vom Ego zur Essenz und macht damit die Präsenz von Essenz zum Zentrum des eigenen Erfahrungshorizonts. Damit hinterfragt man tief verwurzelte und bisher nicht in Frage gestellte Ichstrukturen und löst sie auf. Das Selbstverständnis und die Sicht des Universums werden grundlegend transformiert. Von vielen Dingen, die man bisher für universale Tatsachen der Realität gehalten halt, erkennt man hier, daß sie nur auf Glauben und naiven Annahmen beruhen.
Das führt auch zu Objektivität in Bezug auf Essenz selbst, denn jetzt erfährt man sie eher aus ihrer eigenen Perspektive als aus der der Persönlichkeit. Man erkennt Essenz als Sein (Being), als Zeitlosigkeit und als das ewige Jetzt. In diesem Buch wird der Zustand der Selbstverwirklichung diskutiert, seine individuellen wie auch universellen Dimensionen – wobei die erstere, die um Zeitlosigkeit zentriert ist, als der Eingang zur letzteren fungiert, die um die Jetztheit des Einsseins (oneness) von Sein zentriert ist.
Die eigentlichen Erfahrungen, Verwirklichungen, Einsichten und die daraus resultierende Weisheit, werden im Detail behandelt und die entsprechenden Themen und Strukturen des Ego so weit geklärt, daß man sie in sich selbst erkennen kann. Die Zustände und Themen, die diskutiert werden, sind von fortgeschrittener Art, und der Leser muß sie mit seiner innersten Erfahrung in Beziehung bringen, um zu vermeiden, daß das Material zu rein intellektuellem Wissen degeneriert. Diese Bücher sollen für den Leser von praktischem Nutzen sein. Damit man die wahre Nahrung verdauen kann, die man aus den Untersuchungen dieses Buches gewinnen kann, ist es notwendig, daß der Leser sich ganz darauf einläßt, indem er seine Erfahrung mit der Art Aufrichtigkeit betrachtet, die von jedem Schüler der inneren Arbeit verlangt wird.
Die Flamme der Suche
Warum bin ich hier? Wohin gehe ich? Wir müssen schauen, wie ehrlich wir mit uns sein können, wenn wir versuchen, diese Fragen zu beantworten. Diese beiden Fragen hängen miteinander zusammen. Die meisten Menschen denken nämlich, sie wären hier, weil es ein Ziel gibt; sie wollen irgendwohin gehen. Wohin wollt ihr gehen? Ihr glaubt wahrscheinlich, ihr wißt es - oder? Glaubt ihr, daß ich weiß, wohin ihr gehen sollt? Wenn ihr glaubt, daß ich es weiß, kann ich es euch dann sagen? Und wenn ich es euch sage, werdet ihr dann folgen? Könnt ihr mir folgen?
Das sind Fragen, die ihr mit eurem Verstand (mind) nicht beantworten könnt. Das sind Fragen, die Fragen bleiben sollten. Versucht nicht, sie einfach mental zu beantworten. Diese Fragen sind wie eine Flamme. Wenn ihr sie mit eurem Verstand beantwortet, dann löscht ihr die Flamme, weil der Kopf die Antworten auf diese Fragen nicht weiß und nicht wissen kann. Wenn ihr sie mit eurem Kopf beantwortet und glaubt, ihr wißt, dann ist die Frage verschwunden. Wenn ihr glaubt, daß ihr solche Fragen beantwortet habt, dann ist die Flamme aus und ihr forscht nicht mehr.
Wenn ihr euch auf dieser Ebene mit Antworten einrichtet, dann lebt ihr wie die meisten Menschen, die davon ausgehen, daß sie wissen, warum sie hier sind und wohin sie gehen. Solch ein Leben fühlt sich typischerweise flach und bedeutungslos an. Ein Leben ohne fundamentales Infragestellen ist ein Leben, das nach Formeln gelebt wird, nach dem, was man von anderen gehört hat. Aber warum solltet ihr glauben, was andere euch über das Leben erzählen? Ihr wißt eigentlich nicht, was für euch wahr ist, was für euch wichtig ist, was für euch richtig ist.
Es ist besser unwissend zu bleiben, als Wissen vorzutäuschen. Wenn ihr wißt, daß ihr unwissend seid, und nicht etwas anders vorgebt, dann ist da eine Frage, die lebendig bleibt und weiter in euch brennt, ein tiefer Hunger nach Wahrheit.
Wenn ihr jeden Augenblick eures Lebens betrachtet, zum Beispiel diesen Moment, dann seht ihr, daß ihr die meiste Zeit über glaubt, ihr wüßtet, was in diesem Moment das Beste für euch ist. Ihr denkt, fühlt und verhaltet euch so, als wüßtet ihr, was geschehen soll, als wüßtet ihr, was ihr wollt und was zu wollen wichtig ist. Ihr lebt euer Leben von Moment zu Moment in dem Glauben, daß ihr wißt, wie ihr sein solltet. Woher kommt dieses Wissen?
Das meiste stammt aus eurer frühen Kindheit, sowohl aus dem, was euch unmittelbar beigebracht wurde, als auch aus dem, was ihr indirekt aus eurer Umgebung aufgenommen habt. Manches stammt aus dem, was ihr gehört oder gelesen habt. Es ist konditioniertes Wissen. Was auch immer seine Quelle ist, konditioniertes Wissen ist für die Beantwortung fundamentaler Fragen, wie der Frage danach, warum wir hier sind, nutzlos. Das konditionierte Wissen sagt, daß ich hier bin, damit ich glücklich werde, erfolgreich werde, es mir gut gehen lasse, das bekomme, wovon ich glaube, daß ich es möchte, damit ich meine Träume erfülle, jemanden bekomme, der mich liebt, oder viel Geld verdiene. Die Konditionierung ist einfach ein Überlebensmechanismus. Ihr habt überlebt, ihr seid hier - also hat das Wissen seine Funktion erfüllt und tut es immer noch. Wenn ihr weiter bloß überleben wollt, dann tut das von mir aus. Aber wie unterscheidet ihr euch dann von einem Tier, einem Insekt, das geboren wird, lebt und stirbt?
Woher wißt ihr, daß das Wissen, welches ihr von anderen bekommt, die Wahrheit ist? Woher wißt ihr, daß eure Lehrer, ja selbst die großen Philosophen, die Antwort haben, die für euch paßt? Jesus hat gesagt, daß ihr euren Nächsten lieben sollt. Wißt ihr wirklich, daß es das ist, was ihr tun müßt? Buddha hat gesagt, daß Erleuchtung das Beste ist. Woher wißt ihr, daß es das ist, was ihr braucht?
Manche Leute sagen, ihr müßt lernen, ihr selbst zu sein. Das klingt gut. Manche sagen, ihr sollt frei sein von eurer Persönlichkeit und eure Essenz entwickeln. Das klingt toll. Woher wißt ihr, daß das eure Probleme lösen wird? Ihr wißt nicht wirklich, ob irgendeine dieser Ideen für euch von Bedeutung oder wahr ist. Ihr könnt das nicht mit Sicherheit wissen, bevor ihr selbst experimentiert und aus eigener Erfahrung gelernt habt. Bis dahin beruht euer Handeln auf Überzeugung oder Glauben (faith or belief). Wenn ihr ohne es in Frage zu stellen davon ausgeht, daß das, was jemand sagt, die Wahrheit ist, dann wird eure innere Flamme erlöschen. Ihr werdet glauben, die Fragen beantwortet zu haben, wenn ihr sie noch längst nicht beantwortet habt; jemand anders hat das getan. Und er hat sie nicht für euch beantwortet, sondern für sich selbst. Wir beruhigen uns mit dem Glauben, daß andere wissen und wir ihr Wissen benutzen können. Das ist ein sehr beruhigender Gedanke; er bestärkt uns darin, faul zu sein. Wir beruhigen uns damit, daß wir uns sagen: „Jemand anders weiß, und irgendwann werde ich dazu kommen, es zu studieren. Das Wissen existiert schon und steht mir immer zur Verfügung.“
Aber wißt ihr, ihr selbst, wirklich in eurem Herzen, was geschehen soll? Erlaubt ihr euch selbst jemals, wirklich zu fragen, eine brennende Frage in euch zu tragen - und die Flamme nicht schnell mit der ersten Antwort auszulöschen, die ihr hört? Ihr löscht die Flamme, damit ihr zu eurem Gefühl von Bequemlichkeit und Sicherheit zurückkehren könnt.
Jemand sagt euch, es wäre gut, aufmerksam zu sein, gewahr zu sein. Versucht ihr das, dann hilft es tatsächlich ein wenig - aber ihr wißt immer noch nicht, ob es die Antwort ist. Ihr wißt nicht, ob es wirklich euer Problem löst. Und wenn ihr glaubt, daß ihr es wißt, dann belügt ihr euch selbst. Ihr müßt die Frage lebendig halten, während ihr euch selbst erforscht.
Unsere Fragen danach, warum wir hier sind und wohin wir gehen, sind unbequem, aber sie sind echte Fragen für jeden Menschen. Wenn ihr sie nicht stellt und ihnen erlaubt, chronisch offene Fragen zu bleiben, dann werdet ihr niemals selbst wissen, worum es eigentlich geht. Ihr werdet nie wissen, wer ihr seid, warum ihr hier seid und wohin ihr geht. Euer Kopf ist voller Ideen und Träume und Pläne darüber, was euch erfüllen könnte, was euch glücklich machen, was euch befreien wird. Aber diese Ideen bringen