Zur Verdeutlichung erzähle ich Ihnen die folgende Anekdote aus Indien, die ich von einem Vorstandsmitglied der Reserve Bank of India, der indischen Zentralbank, gehört habe, Herrn Y. S. P. Thorat.
Wie viele andere »Entwicklungsländer« durchläuft auch Indien beträchtliche strukturelle Veränderungen. Die Dorfbewohner, vor allem die jüngeren, wandern nach und nach in die Städte ab, in der Hoffnung, die Familie mit einem höheren Einkommen besser ernähren zu können. Nachdem er sein Leben lang für die Reserve Bank tätig gewesen war, ließ Herr Thorat sich vom Dienst freistellen, um sich der Frage zu widmen, warum sich die Armut in Indien so hartnäckig hält und wie der Finanzsektor zur besseren Unterstützung der armen Landbevölkerung umstrukturiert werden könnte.
Er beschloß, auf dem Motorrad durch Indien zu reisen, einen Fragebogen im Gepäck, und dabei die am wenigsten entwickelten Landstriche zu besuchen und mit den ärmsten Leuten zu reden. (So ganz anonym war er allerdings doch nicht, denn man ließ ihn von vier Autos eskortieren, zwei voran, zwei hinterher.) Eines Tages hielt er am Fuß eines Hügels an und stieg zu dem Dorf auf dem Gipfel hinauf.
Oben angekommen, fand er eine trostlose heruntergekommene Hüttenansammlung mit genau 18 verbliebenen Bewohnern. Eine Frau lud ihn ein, sich zu ihr in ihrer baufälligen Behausung auf den Fußboden zu setzen. Im Haus war nichts, berichtete er, die Frau besaß auch nichts, und ihm wurde klar, daß sein Fragebogen völlig irrelevant war. Nachdem sie eine Weile geplaudert hatten, geschah es. »Möchten Sie etwas essen?« fragte sie ihn. Sie verschwand für einen Moment und kehrte zurück mit einem kleinen Stück Fladenbrot und etwas gesalzenem Fisch, wovon sie ihm mit der Anmut dessen, der viel besitzt, anbot. Er wußte, daß er nicht ablehnen konnte, und nahm das Angebot beschämt an.
Tief gerührt von soviel Großzügigkeit, fragte er die Frau zum Abschied, ob er irgend etwas für sie tun könne. »Was könnten Sie schon tun?« entgegnete die Frau. »Mein Dasein im Exil ist entsetzlich …«
Herr Thorat bezeichnete diesen Moment als die bewegendste und wichtigste Erfahrung seiner gesamten Banklaufbahn! Er setzte seinen Bericht fort mit einer anschaulichen Aufzählung all der Initiativen und Programme, die seit der indischen Unabhängigkeit 1947 im Finanzsektor zur Armutsbekämpfung ergriffen worden waren. Er bezeichnete dies als ein Vermächtnis des Scheiterns und schloß mit den Worten: »Solange man sich nicht um die zugrundeliegenden Ursachen kümmert, werden sich die Strukturen nicht zum besseren wenden.«
»Wenn es möglich wäre«, fragte ich Herrn Thorat, »Zufriedenheit an einer Skala zu messen, wie würden Sie dann die Zufriedenheit der Frau aus dem Dorf im Vergleich zu jener der Landflüchtlinge in den Städten bewerten?« Ohne einen Moment zu zögern, antwortete er: »Die Lage der Frau ist zwar entsetzlich, aber sie ist tausendmal glücklicher!«
* * *
Nachschrift aus Italien: Eine von italienischen Psychologen kürzlich durchgeführte Studie (Gazzetta del Mezzogiorno, 26.11.2001) kam zu dem Schluß, Italiens Kinder hätten die schlechteste Schulbildung von ganz Europa, seien aber am glücklichsten. Was das Geheimnis ihres Reichtums sei, wurde gefragt? Antwort: Nonni coccolati, verschmuste Großeltern.
Lüge Nr. 5
Die besten Produkte und Dienstleistungen werfen die höchsten Gewinne ab
Es wäre schön, wenn dem so wäre. Leider ist es aber nicht so.
Die besten Produkte und Dienstleistungen werfen die höchsten Gewinne ab
Viele Menschen wüßten gerne einen todsicheren Weg, viel Geld zu scheffeln. Es ist ganz einfach. Konzentrieren Sie sich voll und ganz darauf, Geld zu scheffeln. Dieses Rezept funktioniert immer.
Bedeutet dies nun, seine Ellbogen einzusetzen? Vielleicht. Bedeutet es, seinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen? Vielleicht. Bedeutet es Bestechung und Korruption? Nun, wenn man sichergehen will, daß man ganz schnell zu viel Geld kommt, vielleicht. Bedeutet es ein »gefährliches« Leben, wo man sich schützen muß? Vielleicht.
Aber, werden Sie jetzt vielleicht denken, kann ich denn nicht ein anständiger Bürger sein, der ein anständiges Unternehmen betreibt mit guten Produkten, ehrlichen Angestellten und zufriedenen Kunden, so daß alle glücklich sind, und auf diese Art viel Geld verdienen? Auch hier lautet die Antwort: Vielleicht – doch sobald man Werturteile ins Spiel bringt, kann man nicht mehr sicher sein, daß man auch wirklich Geld verdienen wird. Die finanziellen Folgen anständigen Verhaltens sind völlig unvorhersehbar, wie viele Menschen, die diesen Weg schon gegangen sind, bestätigen können.
Der Grund für diese vielleicht traurige Feststellung ist der: Solange wir keine Gesellschaft haben, in der die Wirtschaft grundsätzlich auf Werten basiert, das heißt alle Aktivitäten im Zusammenhang mit Unternehmensführung, Investition und Konsum auf Faktoren beruhen, welche die Würde von Mensch und Umwelt achten – und zwar auch die unsichtbaren Aspekte, die einem Projekt eine bestimmte Bedeutung verleihen und Investitionen an Zeit, Energie, Aufmerksamkeit und, ja, Geld erfordern –, so lange werden sich diese Werte auch kaum in den Preisen der Waren widerspiegeln. So ist die gegenwärtige Situation. Im Gegensatz zu dem, was uns die klassische Wirtschaftstheorie glauben machen will, haben wir eine Marktwirtschaft, die alles andere als »perfekt« ist. Der Markt liefert nicht die umfassenden Daten, die zur Qualitätsbewertung notwendig sind, Daten, für die wir vielleicht bezahlen würden, wenn wir wüßten, wo sie zu finden sind. Statt dessen fördert er eine Verbrauchermentalität, wo jeder alles so billig wie möglich bekommen will. Durch die Zinseszinsen auf Geschäftskredite (mit denen wir uns später noch eingehender befassen werden) führt die Preispolitik heute außerdem zu beträchtlichen Verzerrungen im System. Die Folge ist, daß Preise und Werte keinerlei feste Beziehung zueinander haben. Um es mit Oscar Wildes Worten zu sagen, die heute noch genauso zutreffend sind wie damals, als er sie formulierte: »Heute kennt man von allem den Preis, von nichts den Wert.«
Wenn Sie sich als Unternehmer nun fragen, wie mit dieser Situation umzugehen ist, dann sollten Sie als erstes eine ganz klare Entscheidung treffen: Entweder Sie konzentrieren sich voll und ganz darauf, Geld zu scheffeln – oder darauf, auf Werten basierende Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Vielleicht kennen Sie ja Beispiele für die letztgenannte Geschäftsstrategie, auch wenn diese nicht ganz leicht zu finden sind? Diese beiden möglichen Vorgehensweisen sind ganz verschieden, haben jedoch eins gemein: Bei beiden geht es darum, sich voll und ganz auf ein einziges Ziel zu konzentrieren. Die meisten Wirtschaftsunternehmen mischen jedoch beide Strategien zu einem unfruchtbaren Chaos: Sie konzentrieren sich halbherzig darauf, Geld zu verdienen, und versuchen gleichzeitig irgendwie, Mitarbeiter und Kunden mittels Firmenkultur und Werten zu motivieren, oder sie versuchen ganz ehrlich, gewisse Werte zur Grundlage ihrer Unternehmenspolitik zu machen, fühlen sich dann aber gezwungen, im Interesse ihrer finanziellen Ergebnisse Kompromisse einzugehen. Dies ist keine zynische Sicht der Dinge, wie es zuerst scheinen mag, sondern eine schonungslose, wenn auch traurige Einschätzung der objektiven Tatsachen.
Es ist unmöglich, sich langfristig auf zwei (oder mehr) übergeordnete Ziele gleichzeitig zu konzentrieren und ihnen gleiche Priorität zu geben. Früher oder später kommt es zu einem Konflikt zwischen beiden, so daß eine Entscheidung getroffen werden muß. Gegenwärtig entscheidet man sich da – aufgrund eben der »Lügen«, die dieses Buch aufdecken will – meist unbewußt dafür, den finanziellen Ergebnissen eine höhere Priorität einzuräumen als den Werten. Zwar darf man damit rechnen, daß Preise und Werte sich einander allmählich nähern und Qualität sich irgendwann in Preisen und Werten widerspiegelt, je mehr sich ein Bewußtsein für diese Situation entwickelt, doch ist dies gegenwärtig noch »Zukunftsmusik«!
Ein letztes Wort zu diesem Thema: Selbst wenn die finanziellen Ergebnisse von Firmen, die bestmögliche Produkte und Dienstleistungen anbieten, völlig unvorhersehbar sind – ihre Nachhaltigkeit ist es nicht. Ein solche Firma überlebt garantiert! Lesen Sie weiter, wenn Sie verstehen wollen, warum …
Lüge Nr. 6
Mit Geld sichert man sich seine Existenz
Kneifen Sie sich mal … ja genau, kneifen Sie