3.1 Industrie 1.0 bis 4.0
Abbildung 3: Die vier industriellen Revolutionen (Quelle: Döring & Wimmer 2020)
Als Startpunkt für die erste industrielle Revolution kann die Inbetriebnahme des ersten mechanischen Webstuhls 1784 bezeichnet werden. Wesentlich für diese Entwicklung war die zentral verfügbare mechanische Wasserkraft, welche die manuelle Arbeit ersetzte. 1870 begann die erste Fließbandproduktion und damit die zweite industrielle Revolution. Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren dezentral installierte Elektromotoren und Stromnetze. Der Beginn der dritten industriellen Revolution war die 1969 entwickelte erste speicherprogrammierbare Steuerung (SPS). Damit wurden Produktionsprozesse automatisiert. Nach den großen Rechenmaschinen waren nun der Personal Computer und später das Laptop in Büro und Haushalt unentbehrlich. Ihre kontinuierliche Weiterentwicklung war die Voraussetzung für den Entwicklungsprozess der Digitalisierung. 2007 kam das erste Smartphone mit Touchscreen auf den Markt – die vierte industrielle Revolution (Industrie 4.0) war angebrochen. Der Begriff «Industrie 4.0» wurde gemeinsam von Politik und Wirtschaft geprägt und 2011 anlässlich der Hannover-Messe kommuniziert. Die dezentrale Datenverarbeitung in Kombination mit leistungsfähigen Datennetzwerken waren die Treiber. Als Begrenzung stellen sich allerdings der Zugang, die Übermittlungskapazitäten und die Speicherkapazitäten der großen Datenmengen heraus (vgl. Döring & Wimmer 2020).
3.2 Industrie 5.0/6.0
Aus dem Muster von Innovation und technischem Fortschritt lässt sich eine Prognose für die Industrie 5.0 und gar 6.0 ableiten. Der Beginn der fünften industriellen Revolution wurde möglicherweise 2016 von AlphaGo eingeleitet. AlphaGo ist ein selbstlernender Algorithmus mit zentraler künstlicher Intelligenz (KI). Ihm gelang es, den Weltmeister des Brettspiels Go 4:1 zu schlagen. Der 2017 erschienenen, verbesserten Version AlphaGoZero gelang es, AlphaGo 100:1 zu schlagen. Treibend ist also ein zentral eingesetzter Algorithmus mit KI. Limitierend wirken sich aktuell lediglich die begrenzten Programmierkapazitäten für KI-Algorithmen sowie künstliche neuronale Netze (KNN) aus. Gemäß dem genannten Muster könnte der kommerzialisierte Einsatz von dezentraler künstlicher Intelligenz für digitale Produkte und Dienstleistungen mithilfe von Datenvernetzung eine mögliche treibende Kraft für die sechste industrielle Revolution sein (vgl. FHNW o.J.).
3.3 Kreativität als Inspiration der fünften industriellen Revolution
Die ETH Zürich hat am Weltwirtschaftsforum 2020 in Davos in einer interaktiven Ausstellung veranschaulicht, wie wichtig Kreativität für wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Innovationen ist. Die Ausstellung widmete sich den Schnittstellen zwischen Kunst und Wissenschaft, die beide von menschlicher Kreativität angetrieben werden. Dabei wurde aufgezeigt, wie Mensch und Maschine künftig interagieren könnten. Dazu drei Beispiele.
Wir alle wissen, wie sich Wellen in Form von konzentrischen Kreisen ausbreiten, nachdem ein Stein ins Wasser geworfen wurde. Die Wellen eines zweiten Steines, der kurz nach dem ersten ins Wasser geworfen wird, erzeugt ebenfalls Wellen, die das erste Muster überlagern. Wellen sind auch zentrale Elemente der Quantenmechanik. Forschende, die sich damit befassen, können Wellen so manipulieren, dass eine bestimmte Interferenz (Überlagerung) und dadurch ein bestimmtes Resultat entsteht. Im «Teich der Möglichkeiten» konnten Besucherinnen und Besucher der interaktiven Ausstellung erfahren, wie Quanteninterferenz und Qubits wirken (vgl. Lucien 2020). Ein Qubit (Quantenbit) bezeichnet ein System, das sich durch die Überlagerung von zwei Zuständen auszeichnet. Werden mehrere Qubits zu Gruppen verschränkt, entstehen sehr leistungsfähige Systeme zur Informationsverarbeitung (vgl. Vogel 2017, S. 19).
Abbildung 4: Pond of Possibilities, Wellenspiel mit Füßen und Quantenphysik (Quelle: RETHINKING Creativity, Kuratorin Simone Bucher van Ligten, Foto ETH / Andreas Eggenberger)
Der sogenannte Puppet Master liefert eine Grundlage für die fünfte industrielle Revolution, indem er aufzeigt, wie Roboter und Menschen, die bei ihren alltäglichen Aufgaben Unterstützung benötigen, kreativ und produktiv interagieren können. Der Puppet Master nutzt numerische Simulationsmodelle, damit er zum Beispiel Kugeln in Bechern platzieren und Marionetten bewegen kann. Dabei ist er in der Lage zu lernen, ähnlich wie Kinder in solchen Spielen ihre motorischen Fähigkeiten und Problemlösungskompetenzen trainieren. Der Roboter Puppet Master ebnet auf diese Weise den Weg für zukünftige Robotergenerationen, die mit ihrer Geschicklichkeit Menschen zur Seite stehen werden.
Mit dem PuppetPhone verschwimmen die Grenzen zwischen physischem Gerät und Virtualität. Mittels einer innovativem Interaktionsmetapher reagiert eine virtuelle Marionette in Echtzeit auf die Bewegungen eines Smartphones. Sie kann zum Beispiel einen virtuellen Schneemann bauen, der seinerseits zum Leben erweckt wird und als Teil einer imaginären Geschichte fungiert (vgl. Lucien 2020).
Abbildung 5: Schneemann bauen mit Puppet Phone (Quelle: RETHINKING Creativity, Kuratorin Simone Bucher van Ligten, Foto: ETH Zürich / Game Technology Center)
3.4 Kritik am Revolutionsmodell
An der in Kapitel 3.1 und 3.2 geschilderten Vier- beziehungsweise Fünfteilung der Vergangenheit wird auch Kritik geäußert. In ihrem Aufsatz zeigen Hessler und Thorade (2019) anhand verschiedener Punkte auf, dass die Einteilung des technologischen Fortschritts in vier beziehungsweise fünf industrielle Revolutionen eine gängige Vereinfachung darstellt.
Erstens suggeriert das Modell der industriellen Revolutionen einen stufenweisen linearen Fortschritt hin zum Besseren. Die alte Stufe wird von der neuen Stufe abgelöst. Es existieren keine Brüche, Diskontinuitäten, Pluritemporalitäten (Existenz unterschiedlicher Zeitwahrnehmungen und -deutungen). Die historische Forschung hingegen hat ein derartiges Fortschrittsdenken längst dekonstruiert.
Die Idee der Ablösung der vorhergehenden Stufe durch die nachfolgende entspricht nicht der Geschichte der Industrialisierung, in der ein altes Produktionssystem nicht schnell und vollständig durch ein neues ersetzt wird. Die numerische Zählung ist ein geschickter Schachzug, um den Stellenwert der Industrie neu zu betonen und in aktualisierter, digitalisierter Form neu aufleben zu lassen.
Zweitens haben die vier Revolutionen, wie sie in besagtem Modell identifiziert werden, ihren Ursprung in Europa und den USA. Damit wird die Geschichte der industriellen Revolution aus globaler Perspektive außen vorgelassen.
Drittens wird die historische Entwicklung nach diesem Modell jeweils von Technologien ausgelöst: der mechanische Webstuhl, das Fließband, der Roboter, die Digitalisierung. Damit werden komplexe Transformationsprozesse auf technische Erfindungen reduziert, während gesellschaftliche, politische, kulturelle und ökonomische Faktoren unbeachtet bleiben. Mit der Bezeichnung «Revolution» werden Brüche angedeutet, die von der Geschichtswissenschaft mehrfach reflektiert und kritisiert wurden (vgl. ebd., S. 156f.).
Aus den genannten Gründen bevorzugt die aktuelle Forschung Phasenmodelle, die sich bei der Einteilung der Vergangenheit als flexibler herausstellen, indem sie beispielsweise Überlappungen zulassen. Die Einteilung in die bisherigen vier industriellen Revolutionen erzeugt zu stark vereinfachende, technikdeterministische Bilder der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Hessler und Thorade plädieren deshalb für die Schärfung von Fragestellungen, neue Perspektiven auf aktuelle Problemlagen und eine sorgfältige historische Einordnung (vgl. ebd., S. 166–170). Jenseits der ökonomischen und technischen Erneuerungen gibt es demnach viele weitere Neuerungen. So sind etwa soziale Innovationen wie Genossenschaften, Sharing Economy, Mehrgenerationenwohnformen oder Open-Source-Bewegungen