«Böse Sitten»
Das ist eine unverhohlene Kampfansage an die Soldherren jeglicher Couleur. Wie weit kann Zwingli hier auf die Unterstützung durch die Regierung zählen? Und wie stellt man sich auf der Landschaft zu seinem radikal romkritischen Kurs? Ganz bestimmt kann Zwingli mit einem grossen Teil der Geistlichen rechnen, mit dem städtischen Domherrn wie mit dem einfachen Dorfpfarrer. Denn im täglichen Verkehr mit dem Volk erfahren diese Kollegen nur allzu schmerzlich, wie zurückkehrende Reisläufer die Umgangsformen prägen, wie die gewohnten Raufereien in tödliche Messerstechereien ausarten, wie sich Trunksucht und Arbeitsscheu ausbreiten. «Die Unsrigen», so Zwingli, «sind noch nie aus fremden Kriegen zurückgekehrt, ohne ungewohnte Kleidung für sich und ihre Weiber mitzubringen, dazu allerhand Speisen, unmässiges Trinken, neue Flüche. Was sie an Sündhaftem antreffen, das lernen sie gerne, sodass man befürchten muss, mit der Zeit werde man noch schlimmere Laster kennenlernen, wenn man nicht vom Dienst bei fremden Herren ablasse. Auch die weibliche Zucht wird geschwächt und entfernt sich von Gott» (siehe « Böse Sitten).
« Böse Sitten: Die dritt farlikeit ist, das man böss sitten mit frömdem gelt und krieg heimbringt und pflantzet. Das sehent wir eygenlich, dann die unseren nie heim kummen sind us frömbden kriegen, sy habend mit inen etwas nüwes bracht an kleydung ir selbs und irer wybren, an spyss, an tranck unmass, nüw schwuer; und was sy süntlichs sehent, lernend sy gern, also, das ze besorgen ist, lasse man nit von frömden herren, man werde noch schädlichere laster mit der zyt erlernen. Es würt ouch alle frowenzucht dess schwecher und unfrömmer. (ZW I, 10, S. 183) »
Die dritte Gefahr besteht darin, dass man aus dem Krieg zusammen mit dem fremden Geld verderbliche Sitten mit heimbringt und sie dort einreissen lässt. Das erleben wir ganz konkret, denn die Unsrigen sind noch nie aus fremden Kriegen zurückgekehrt, ohne neumodische Kleidung für sich und ihre Weiber mitzubringen, dazu allerhand Speisen, unmässiges Trinken, neue Flüche. Was sie an Sündhaftem antreffen, das lernen sie gerne, sodass man befürchten muss, mit der Zeit werde man noch schlimmere Laster kennenlernen, wenn man nicht vom Dienst bei fremden Herren ablasse. Auch die weibliche Zucht wird geschwächt und entfernt sich von Gott.
Das spricht manch einem geistlichen Herrn aus dem Herzen. Was die städtische Obrigkeit angeht, so dominieren im Augenblick die liberalen und reformwilligen Kräfte. Mit der vorgesehenen Aufhebung der Klöster tun sich die wenigsten schwer: Allzu verlockend ist die Aussicht auf den massiven Zuwachs an Grundbesitz, Rechten und Abgaben, mit dem die Stadt rechnen kann. Daneben gibt es einen konservativen Kern alteingesessener Geschlechter. Hier findet man sich nur widerwillig mit dem Reislaufverbot ab; vor allem verzichtet man nur ungern auf die Pensionsgelder. Denn nach wie vor erhalten angesehene Ratsherren regelmässige Zuwendungen von Seiten des Papstes, der französischen Krone oder anderer Parteien. Die Zielvorgabe: Die Empfänger dieser Pensionen oder Jahrgelder sollen als eine Art Lobbyisten die Interessen des jeweiligen Geldgebers vertreten; hauptsächlich geht es um die Anwerbung von Söldnern. Wie im Umgang mit Schmiergeldern üblich, werden die Beträge sehr diskret übergeben, was manchen Lobbyisten erlaubt, gleich mehrere Geldquellen aufs Mal anzuzapfen …
Hearings im Rathaus
Mit solchen Machenschaften befasst sich ein Komitee, das Bürgermeister und Räte in den Mittzwanzigerjahren einsetzen. Über drei Wochen hinweg kommen im Herbst 1526 mehr als vier Dutzend Vorgeladene zu Wort – von Zwingli, der die Untersuchung gefordert hat, bis zur Kneipenwirtin, die an einer feuchtfröhlichen Runde allerlei verdächtige Äusserungen aufgeschnappt hat. Die Protokolle haben sich bis heute erhalten: eine Folge von Einzelverhören, Gruppenbefragungen, Unschuldsbeteuerungen und Gegenüberstellungen, bei denen sich manche Verdächtige gegenseitig belasten. Die Abklärungen beginnen am 10. Oktober mit Ulrich Zwingli, der zwei Tage lang als eine Art Chefankläger Zeugen und Verdächtige vorlädt, und sie enden mit einem Eklat. Ratsherr Jakob Grebel, einer der ersten Befürworter der Reformation, soll trotz striktem Verbot während Jahren grosse Summen Pensionsgelder eingestrichen haben. Der Rat verurteilt ihn zum Tod; der 66-Jährige wird am zweitletzten Tag des Monats öffentlich enthauptet.
Seine Anhänger werden später unter der Hand verbreiten, hier sei ein Sündenbock gesucht und gefunden worden; mit gleichem Recht hätte die Todesstrafe auch andere Jahrgeldbezüger treffen können (tatsächlich sprach das Gremium hohe Geldbussen gegen ein Dutzend weitere Überführte aus). Das Protokoll der Verhöre erinnert in mancher Hinsicht tatsächlich an eine Hexenjagd. Manche «Beweise» stammen aus zweiter Hand, etwa aus einer Kneipe, wo ein Zeuge eine Gruppe von Zechern am Nebentisch belauscht, als sie in die trünk kommen syen und von pensionen und vom Evangelium redten. Zwingli selbst beginnt mit einer pauschalen Unterstellung: dass alle die, so mit pension verdacht sind, einhelliglich wider das Evangelium stritend – bei den Verdächtigen handle es sich durchs Band weg um Gegner des neuen Glaubens.
Stallknechte und andere Bedienstete der Angeklagten werden aufgespürt und vorgeladen und sollen bezeugen, wo und wann sich ihre Herren mit Mittelsmännern eines Königs oder Herzogs getroffen haben – auch wenn diese Treffen oft mehrere Jahre zurückliegen.
Da berichtet ein Zeuge von einem geheimnisvollen Boten, der zu später Stunde «gestiefelt und gespornt» das Haus eines Ratsherrn verlassen habe. Ein anderer hat im Bäderstädtchen Baden mit einem Offizier gezecht. Der habe ihm eine Handvoll Goldmünzen unter die Nase gehalten und geprahlt, so viel schnelles Geld bringe eben nur der Kriegsdienst ein. Im Haus eines gewissen Pfäffli Ziegler sei laut schwadroniert worden, der Zwingli wäre allen zu schwer, man müsse ihn irgendwie loswerden – man müesse luogen, wie man sin abkäm. Ein Stadtknecht weiss wiederum von anderen Stadtknechten, diese bezögen ein festes Gehalt, dorumb dass si die pensioner warneten, wann si si fachen (festnehmen) solltend …
Rette sich, wer kann
Allerdings bringen die Verhöre auch handfeste Ergebnisse, gerade im Fall von Jakob Grebel. Dass es dieser ohnehin schwerreiche Eisenhändler durch Zuwendungen aus verschiedenen Lagern auf Pensionsgelder von 4000 Kronen (6000 Gulden) brachte, hat er in privater Runde eingestanden; auch das bestätigen mehrere Zeugen.
Beim persönlichen Verhör wiegelt Grebel allerdings ab: Ein Teil der Gelder sei für die Ausbildung seines Sohns Konrad bestimmt gewesen, bei weiteren Summen handle es sich um Unternehmenskredite; andere Zahlungen hingegen fielen in die Zeit vor dem Verbot. Wenn er sich mit dem tresorier oder Zahlmeister eines Kardinals getroffen habe, dann als Privatmann – anderseits ergibt ein weiteres Verhör, dass die beiden gar keine gemeinsame Sprache sprechen, in der sie sich unterhalten könnten. Kommt hinzu, dass Sohn Konrad seinen Vater desavouiert, indem er wiederholt in aller Öffentlichkeit klagt, er erhalte die für seine Ausbildung vorgesehenen Gelder nur zum kleinsten Teil. Und wenn Konrad daran denkt, «dass er von drei Herren, dem Papst, dem Franzosen und dem Herzog von Mailand, Geld gehabt habe», gerät er in Panik: Sollte das bekannt werden, muss er um sein Leben fürchten.
Panik macht sich auch unter weiteren Pensionsherren breit. Manche befürchten, dass sie ouch etwa in die suppen kämen, also durch belastende Aussagen der Mittäter in den Strudel gerissen würden. Muoss ich dran, so muoss das alt Grebeli ouch dran, droht ein gewisser Christoph Bodmer. Und letztlich ist es wohl diese Maxime des «Rette sich, wer kann», die dem Komitee genügend Material für eine Anklage und ein Urteil verschafft. Dass im Fall Grebels die Todesstrafe verhängt wird,