Ulrich kommt im toggenburgischen Wildhaus zur Welt, am ersten Tag des Jahres 1484. Seine Familie gehört zu den alten Bauerngeschlechtern der Gegend, sein Vater nimmt als Ammann der stattlichen Gemeinde eine angesehene Stellung ein. Mehrere unter seinen zahlreichen Geschwistern schlagen eine geistliche Laufbahn ein und folgen so dem Beispiel ihres Onkels Bartholomäus, der in Weesen am Walensee als Dekan amtet. Der kleine Ulrich – sein Vorname lautet zeitgenössisch «Huldrych» oder «Huldreich» – kommt bereits als Fünfjähriger bei Onkel Bartholomäus unter, der das Sprachtalent des Neffen staunend zur Kenntnis nimmt und seine weitere Ausbildung überwacht: Lateinschule in Basel, Studium in Wien und wiederum in Basel. Hier schliesst er als Werkstudent mit dem Titel eines Magister Artium ab und wird mit 22 zum Priester geweiht. 1506 beruft ihn die Stadt Glarus als Leutpriester, wobei der in der regionalen geistlichen Szene gut vernetzte Bartholomäus seine Beziehungen spielen lässt.
Die Berufung nach Glarus erweist sich als Glücksfall für einen jungen Geistlichen, der keinerlei seelsorgerische Praxis vorweisen kann. Statt einer abgelegenen ländlichen Pfarrei übernimmt der 22-Jährige die Betreuung einer Gemeinde von 2000 Seelen, Hauptort eines Standes, der sich schon früh der Eidgenossenschaft angeschlossen hat. Die Glarner gewähren dem Neuling erstaunlich viele Freiheiten und honorieren damit wohl auch, dass das Amt an einen ernsthaften Bewerber gegangen ist statt an den päpstlichen Günstling Heinrich Göldli. Diesem war die Pfründe dank einer Verordnung aus Rom ursprünglich zugedacht, nur dass Göldli bereits als Chorherr in Embrach und als Priester in Baden amtete und einen beliebigen Vikar nach Glarus abgeordnet hätte. Die Sache hat allerdings einen Haken: Göldli tritt keineswegs freiwillig zurück, lässt sich vielmehr erst gegen eine Jahresrente von zehn Gulden zum Verzicht bewegen, die Zwingli persönlich aufbringen muss.
Von diesem Ärgernis abgesehen gehören die zehn Jahre in Glarus zu den fruchtbarsten in Zwinglis Leben. Er erfüllt seine Pflichten als Seelsorger, errichtet eine Lateinschule für begabte Knaben, findet Musse zum Musizieren und beherrscht schliesslich ein Dutzend volkstümlicher Zupf- und Streichinstrumente (was ihm unter seinen Gegnern prompt den Ruf eines spilmans und lautenschlechers einbringt). Vor allem aber: Er findet Zeit für seine Sprachstudien, eignet sich – weitgehend als Autodidakt – Griechisch und Hebräisch an. Für Zwingli sind die antiken Sprachen «Gaben des Heiligen Geistes», die ihn näher ans biblische Original bringen. Und als homo humanissimus, als den ihn seine Kollegen verehren, wagt er sich an ein Lehrgedicht in elegantem Latein, eine gereimte «Fabel vom Ochsen», die bald auch auf Deutsch erscheint. Das Gleichnis vom friedlichen Tier, das von heimtückischen Nachbarn wie Leopard und Löwe auf gefährliche Abwege gelockt wird, ist allerdings mehr als eine spielerische Fingerübung, es ist eine leicht zu entziffernde Absage an die Reisläuferei und die Verstrickung der Eidgenossenschaft in die europäische Machtpolitik (siehe «Fabel vom Ochsen). So sehen das auch Zwinglis Gegner in Glarus, wo praktisch die gesamte Führungsschicht einen Soldvertrag mit Frankreich befürwortet. Die Ochsen-Fabel und Zwinglis zunehmend schärfer formulierte Kanzelreden lassen den Argwohn gegen den aufmüpfigen Seelsorger wachsen. Als im Frühjahr 1516 das Kloster Einsiedeln mit einem Leutpriesteramt lockt, sagt Zwingli zu.
« Fabel vom Ochsen. In der polemischen Fabel Das Gedicht vom Ochsen (1510) stellt Zwingli die Eidgenossenschaft in Gestalt eines gutmütigen Ochsen dar. Umworben wird er vom Leopard (dem französischen König), vom Löwen (dem deutschen Kaiser), vom guten Hirten (dem Papst) und mehreren Katzen (den Fürsten der italienischen Stadtstaaten). Sie alle haben nur eines im Sinn: die Kraft des Ochsen für ihre Zwecke einzusetzen.
Do nun mit list der lechpard bkam
den ochssen schlecht, dass er
annam sin bundt, fuort er in nach siner
bger hiehar, dorthin, beid wyt und ferr.
Also ward ingefuert der schlecht
ochsss von katzen, das er meynt recht,
wo er den lechpard mit siner sterck
erhöhen möcht und gflissnem werck.
Nympt an all schaden,
klein und gross,
streych, schwertschleg, glich als ein amboss,
dass er den leopard rich mach;
ein schlangenzüchen was im gach.
Do nun des lechpards glück erblickt
der lew, zum ochssen er bald ficht
und redt in an, het schwantz und burst
niderglan, sagt ouch, wie in ducht
nach sinr geselschafft, batt in daby
früntlich, nit zwungen sunder fry
darin zegan. (ZW I, 2, S. 15f.)»
Als so der listige Leopard den biederen Ochsen dazu gebracht hatte, ein Bündnis einzugehen, führte er ihn nach Lust und Laune bald hierhin, bald dorthin, fern und nah. So hatten die Katzen dem einfachen Ochsen beigebracht, er würde mit seiner Kraft und harter Arbeit das Ansehen des Leopards erhöhen. Ohne kleineren oder grösseren Schaden zu erleiden, erduldete der Ochse Schläge und Schwertstreiche, die er wie ein Amboss hinnahm, um so den Leoparden reich zu machen; selbst vor Schlangen schreckte er nicht zurück. Als nun der Löwe das Glück des Leoparden mit ansah, näherte er sich dem Ochsen und sprach ihn an, mit bescheiden hängendem Schwanz und Mähne. Er beteuerte dem Ochsen, wie sehr ihm an seiner Gesellschaft gelegen sei, und bat ihn, einen freundschaftlichen Bund mit ihm zu schliessen, in aller Freiheit und ohne jeglichen Zwang.
In seinen Augen bietet der europaweit populäre Pilgerort unschätzbare Vorteile. Das Pflichtenheft hier ist bescheiden; es bleibt noch mehr Zeit für Sprachstudien, für Kontakte mit humanistischen Freunden in Basel und Zürich. Bescheiden ist zwar auch das Salär, mit mageren 20 Gulden im Jahr, dafür stehen jedoch Pferde und Bediente zur Verfügung, Unterkunft und reichliche Verpflegung sind garantiert. Vor allem aber: Hier kann Zwingli seine Kanzelrhetorik ausbauen und weiterarbeiten an seinem bereits legendären Vortragsstil, der populäre Vergleiche und messerscharfe theologische Interpretation verbindet. Während andere Priester sich mit der herkömmlichen Liturgie begnügen und der Messe allenfalls ein paar besinnliche Worte anfügen, baut Zwingli in diesen zweieinhalb Einsiedler Jahren die Predigt zu einem vielseitigen und gefürchteten Instrument der Verkündigung aus. Er wird zum charismatischen Redner, der das Wort wie eine Waffe einsetzt – und dies vor einem Publikum, das aus allen Teilen der Eidgenossenschaft stammt. Darunter findet sich oft eine kleine, aber aufmerksame Zürcher Delegation, zu der immer öfter auch der Zürcher Bürgermeister Marx Röist gehört.
Käufliches Seelenheil
Es gab zwei Dinge, mit denen die Einsiedler Jahre Zwingli immer wieder konfrontierten. Der Kult um die Schwarze Madonna liess ihn intensiv über die Heiligenverehrung und die Vermittlerposition der Heiligen im Glaubensgefüge nachdenken. Denn das Gnadenbild, das die Muttergottes mit Kind zeigt und als Folge eines Altarbrands eine dunkle Färbung aufweist, ist die zentrale Attraktion des Wallfahrtsortes. An ihm machen sich die Wünsche und Gebete der Gläubigen fest: eine Zwischeninstanz, für die sich in der Heiligen Schrift keinerlei Grundlage findet. Vom zweiten Einsiedler Jahr an warf der Kreuzzug des Franziskanermönchs Bernardin Sanson zudem grosse Wellen. Zumindest inoffiziell trug Sanson – so wie Zwingli ein charismatischer Prediger – im Auftrag des Vatikans an die Ausbaukosten der Peterskirche in Rom bei, und dies mit Hilfe eines Spezialangebots: Ablassbriefe, sogenannte Indulgenzen, bescheinigten gegen ein Entgeld den Erlass von Strafen für begangene Sünden. Sie wurden an effektvoll inszenierten Massenanlässen an die Gläubigen