Der Wind klagte leise. Es war die Stunde des Jägers. Gacel blickte zu den Sternen auf. Sie verrieten ihm, wie lange es noch dauern würde, bis das Licht des Tages sie am Firmament erlöschen ließe. Er rief in die Finsternis hinaus, und sein Mehari, das kauend seinen Hunger an den von Tau benetzten, struppigen Büschen stillte, antwortete ihm leise. Gacel sattelte es und setzte ohne anzuhalten seinen Weg fort, bis er am frühen Nachmittag fünf dunkle Flecken entdeckte, die sich am Horizont über der mit Steinen bedeckten Ebene abhoben. Es war das kleine Zeltlager von Mubarrak-ben-Sad, dem amahar vom »Volk der Lanze«, der die Soldaten zu Gacels khaima geführt hatte.
Gacel verrichtete seine Gebete und setzte sich dann auf einen glatten Stein, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Er hing düsteren Gedanken nach, denn er ahnte, daß die letzte friedliche Nacht seines Lebens vor ihm lag. Im Morgengrauen würde er die elgebira des Krieges, der Rache und des Hasses öffnen müssen. Kein Mensch vermochte jemals vorauszusagen, wieviel Tod und Gewalt sie enthielt.
Er versuchte, die Beweggründe zu verstehen, die Mubarrak dazu verleitet hatten, mit der heiligsten Tuareg-Tradition zu brechen, aber es gelang ihm nicht. Mubarrak war ein Führer durch die Wüste und ohne Zweifel ein guter, aber als Targi durfte er sich nur dazu hergeben, Karawanen zu führen, Wild aufzuspüren oder ein paar Franzosen auf einer ihrer seltsamen Expeditionen zu begleiten, wenn sie nach Spuren aus der Zeit seiner Vorfahren suchten...
Als Mubarrak-ben-Sad an jenem Morgen die Augen aufschlug, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Seit längerem schon überfiel ihn das Grauen im Schlaf, aber jetzt suchte es ihn sogar im wachen Zustand heim. Instinktiv wandte er sein Gesicht dem Eingang der seriba zu, als ahnte er, daß er dort den Menschen erblicken würde, vor dem er sich so sehr fürchtete. Und tatsächlich: Keine dreißig Schritte entfernt stand, auf den Knauf seiner langen, in die Erde gerammten takuba gestützt, Gacel Sayah, der edle amahar vom Kel-Tagelmust. Er war gekommen, um Rechenschaft zu fordern.
Mubarrak ergriff seinerseits sein Schwert und trat aufrecht, würdevoll und ohne Hast vor. Fünf Schritte von Gacel entfernt blieb er stehen.
»Assalamu aleikum!« grüßte er mit der von den Tuareg bevorzugten Formel. .
Er erhielt keine Antwort und hatte eigentlich auch keine erwartet. Auf die Frage:
»Warum hast du das getan?« hingegen war er innerlich vorbereitet.
»Der Oberst in der Garnison von Adoras hat mich gezwungen.«
»Niemand kann einen Targi zu etwas zwingen, das er nicht will...«
»Ich arbeite schon seit drei Jahren für sie. Ich stehe offiziell als Führer im Dienst
der Regierung und konnte mich nicht weigern.«
»Aber du hattest wie ich geschworen, nie für die Franzosen zu arbeiten!«
»Die Franzosen sind fort. Jetzt sind wir ein freies Land.«
Innerhalb von wenigen Tagen hatten Gacel zwei verschiedene Menschen dasselbe gesagt. Plötzlich erinnerte er sich, daß weder die Soldaten noch der Offizier die Uniformen der verhaßten Kolonialmacht getragen hatten. Unter ihnen war kein Europäer gewesen, und keiner hatte mit dem für die Franzosen typischen harten Akzent gesprochen. An ihrem Lastwagen hatte auch die sonst unvermeidliche blauweiß- rote Fahne gefehlt.
»Die Franzosen haben immer unsere Traditionen geachtet«, murmelte Gacel schließlich, als spräche er zu sich selbst. »Warum sollten sie jetzt nicht mehr respektiert werden, wo wir angeblich frei sind?«
Mubarrak zuckte mit den Achseln. »Die Zeiten ändern sich«, sagte er.
»Nicht für mich!« war die Antwort. »Erst wenn die Wüste eine einzige Oase geworden ist, erst wenn das Wasser in Strömen durch die seguias fließt und der Regen so reichlich auf unsere Köpfe fällt, wie wir es uns wünschen - erst dann werden sich die Sitten und Gebräuche der Tuareg ändern. Vorher nicht!«
Mubarrak wirkte äußerlich ruhig, als er fragte: »Soll das heißen, daß du gekommen bist, um mich zu töten?«
»Ja, deshalb bin ich hier.«
Mubarrak nickte schweigend. Er hatte verstanden. Mit einem langen Blick umfaßte er alles, was ihn umgab. Er betrachtete die noch feuchte Erde und die winzigen Knospen der achab, die zwischen Steinen und Geröll zum Licht strebten.
»Der Regen war schön«, sagte er schließlich.
»Sehr schön.«
»Bald wird die ganze Ebene blühen, aber einer von uns beiden wird es nicht mehr sehen.«
»Daran hättest du denken müssen, bevor du die Fremdlinge zu meinem Zeltlager führtest.«
Unter dem Schleier verzogen sich Mubarraks Lippen zu einem kleinen Lächeln.
»Da hatte es noch nicht geregnet«, erwiderte er. Dann griff er nach seiner takuba und zog den geschmiedeten Stahl ganz langsam aus der Lederscheide. »Ich hoffe von ganzem Herzen, daß dein Tod keinen Krieg zwischen unseren Stämmen auslöst«, fuhr er fort.« Niemand außer uns selbst soll für unsere Fehler bezahlen.«
»So sei es!« bestätigte Gacel. Er beugte sich vor und wartete auf den Angriff des anderen.
Der ließ jedoch auf sich warten, denn sowohl Mubarrak als auch Gacel waren keine Krieger mehr, die mit Schwert und Lanze fochten, sondern Männer, die sich an Feuerwaffen gewöhnt hatten. Im Lauf der Zeit waren die langen takubas zur reinen Zierde verkümmert. Sie wurden nur noch bei Feiern, an Festtagen und anläßlich von unblutigen Schaukämpfen eingesetzt. Bei solchen Kämpfen ging es mehr um den äußeren Effekt als um die Absicht, den Gegner zu verwunden: Die Schwerthiebe prallten von ledernen Schutzschilden ab wurden geschickt pariert.
Doch jetzt gab es keine Schilde und auch keine Zuschauer, die die Zweikämpfer bewunderten, welche aufeinander einschlugen, daß die Funken sprühten, zugleich jedoch darauf bedacht waren, sich gegenseitig nicht zu verletzen. Nein, diesmal standen sich zwei Feinde mit der Waffe in der Hand gegenüber, und jeder der beiden war entschlossen, den anderen zu töten, um nicht selbst getötet zu werden.
Wie konnte ein Schlag ohne Schild pariert werden? Wie konnte man aufeinander losgehen oder einen Sprung rückwärts machen, ohne sich eine Blöße zu geben, wenn der Gegner einem keine Zeit ließ, auf die eigene Deckung zu achten?
Die beiden Tuareg blickten sich in die Augen, jeder versuchte, die Absicht des anderen zu erraten. Langsam und vorsichtig umkreisten sie sich, während aus den khaimas Männer, Frauen und Kinder traten, um ihnen sprachlos vor Staunen zuzusehen. Es wollte ihnen nicht in den Kopf, daß es sich hier nicht um ein spielerisches Duell, sondern um einen Kampf auf Leben und Tod handelte.
Schließlich wagte Mubarrak den ersten Ausfall, der eher wie eine schüchterne Frage wirkte, als wollte er herausfinden, ob es bei diesem Zweikampf wirklich um Sein oder Nichtsein ging.
Die Erwiderung - sie zwang ihn, einen Satz rückwärts zu machen, um der wütenden Klinge seines Gegners um Haaresbreite zu entgehen - ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Gacel Sayah, amahar des gefürchteten Volkes vom Kel- Tagelmust, trachtete ihm nach dem Leben, daran war nicht zu zweifeln. In dem beidhändig geführten Schlag, den er soeben ausgeteilt hatte, hatte soviel Rachsucht und Haß gelegen, als wären jene beiden Unbekannten, denen er vor nicht allzulanger Zeit Schutz gewährt hatte, seine Lieblingssöhne gewesen und als hätte Mubar-rak-ben-Sad die beiden eigenhändig ermordet.
Gacel empfand jedoch keinen echten Haß. Er war nur darauf aus, die Gerechtigkeit wiederherzustellen, und es wäre ihm nicht edelmütig erschienen, einen anderen Targi zu hassen, nur weil er seine Arbeit verrichtet hatte, mochte diese Arbeit auch falsch und verächtlich sein. Außerdem wußte Gacel, daß Haß genau wie Angst, Unbesonnenheit, Liebe oder jedes andere tief empfundene Gefühl ein schlechter Begleiter für einen Mann der Wüste war. Um in diesem Land, das das Schicksal ihm zur Heimat bestimmt hatte, zu überleben, bedurfte es großer Ruhe und Gelassenheit. Hier brauchte man Kaltblütigkeit