Tuareg. Alberto Vazquez-Figueroa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alberto Vazquez-Figueroa
Издательство: Bookwire
Серия: Novelas
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788418811425
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der eine letzte Anstrengung machte, sich zu erheben und seiner Herde zu folgen. Doch etwas in ihm war zerbrochen. Nichts gehorchte mehr seinem Willen. Nur seine großen, unschuldigen Augen spiegelten das Ausmaß seiner Angst, als der Targi ihn am Gehörn packte, seinen Kopf nach Mekka drehte und ihm mit einem raschen Schnitt seines rasiermesserscharfen Dolches die Kehle durchschnitt. Das Blut schoß pulsierend aus der Wunde, es bespritzte die Sandalen und den Saum der gandura, aber Gacel achtete nicht darauf. Er war zufrieden, daß er wieder einmal seine Schießkunst unter Beweis gestellt und das Wild genau an der richtigen Stelle getroffen hatte. Als sich die Nacht herabsenkte, saß er noch immer da und aß. Die ersten Sternbilder waren noch nicht am Himmel erschienen, da schlief er schon, von einem Strauch gegen den Wind geschützt und vom erlöschenden Feuer gewärmt.

      Das Lachen der Hyänen weckte ihn. Der Geruch der Antilope hatte sie herbeigelockt. Auch die Schakale trieben sich in der Nähe herum. Deshalb schürte Gacel das Feuer und scheuchte die Aasfresser möglichst weit in die Finsternis zurück. Er legte sich auf den Rücken, blickte zum Himmel auf, lauschte dem Rauschen des Windes und dachte darüber nach, daß er am Tag zuvor einen Mann getötet hatte. Zum ersten Mal im Leben hatte er einen anderen Menschen umgebracht, und das bedeutete, daß sein Leben künftig nie wieder so sein würde wie früher. Er fühlte sich nicht schuldig, denn er hielt seine Sache für gerecht, doch war er besorgt über die Möglichkeit, daß er einen jener Stammeskriege ausgelöst hatte, von denen die Alten soviel erzählten. Bei diesen Fehden kam immer irgendwann der Augenblick, an dem niemand mehr so recht zu sagen wußte, aus welchem Grund all das Blut vergossen wurde und wer damit angefangen hatte.

      Dabei konnten es sich gerade die Tuareg, die wenigen imohar, die noch durch die Wüste zogen und die ihren Traditionen und Gesetzen treu waren, überhaupt nicht leisten, sich gegenseitig auszurotten, denn sie hatten schon alle Hände voll damit zu tun, sich gegen das Vordringen der Zivilisation zu behaupten.

      Gacel rief sich die seltsame Empfindung ins Gedächtnis zurück, die seinen ganzen Körper durchzuckt hatte, als er fast ohne Anstrengung das weiche Fleisch von Mubarraks Unterleib mit dem Schwert durchbohrt hatte. Fast glaubte er noch einmal den heiseren Laut zu vernehmen, der sich in jenem Augenblick der Kehle seines Gegners entrungen hatte. Beim Herausziehen der Klinge war es Gacel vorgekommen, als hafte an der Spitze seiner takuba das Leben des besiegten Feindes. Beklommen dachte er an die Möglichkeit, daß er die Waffe vielleicht wieder eines Tages gegen einen Menschen richten müßte. Aber dann erinnerte er sich an den trockenen Knall des Schusses, der seinen schlafenden Gast das Leben gekostet hatte, und er tröstete sich damit, daß die Schuldigen eines solchen Verbrechens nicht auf Vergebung hoffen konnten.

      Gacel hatte erfahren, wie bitter Ungerechtigkeit schmeckte, und genauso bitter war es, Unrecht zu sühnen. Mubarrak zu töten hatte ihm nicht das geringste Vergnügen bedeutet, sondern nur ein Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit und Leere in ihm zurückgelassen. Der alte Suilem hatte recht: Rache konnte die Toten nicht zum Leben erwecken.

      Irgendwann stellte sich Gacel die Frage, warum das ungeschriebene Gesetz der Gastfreundschaft für die Tuareg schon immer so wichtig gewesen war, daß es vor allen anderen Gesetzen, sogar denen des Koran, Vorrang hatte. Er versuchte sich vorzustellen, wie das Leben in der Wüste wäre, wenn ein Reisender nicht mehr die unerschütterliche Gewißheit

      haben konnte, daß man ihn jederzeit in einer menschlichen Siedlung willkommen hieß, ihm Hilfe zukommen ließ und Achtung entgegenbrachte.

      In einer der alten Geschichten war die Rede von zwei Männern, die sich einst so sehr haßten, daß einer der beiden - es war der Schwächere - sich eines Tages vor der khaima seines Feindes einfand und diesen um Gastfreundschaft ersuchte. Auf die Wahrung der Überlieferung bedacht, nahm der Targi den Gast auf und bot ihm seinen Schutz, doch nach zwei Monaten hatte er es derartig satt, die Gesellschaft des anderen ertragen und ihn durchfüttern zu müssen, daß er ihm versprach, ihn in Frieden ziehen zu lassen und ihm nie wieder nach dem Leben zu trachten. Das mußte sich vor vielen, vielen Jahren zugetragen haben, aber seither hatte sich aus jener Begebenheit bei den Tuareg ein Brauch entwickelt, mittels dessen sie ihre Streitigkeiten und Fehden beilegten.

      Wie hätte er, Gacel, reagiert, wenn Mubarrak in seinem Zeltlager erschienen wäre, um ihn um Gastfreundschaft und Vergebung für seine Verfehlung zu bitten? Er wußte es nicht zu sagen, aber wahrscheinlich hätte er sich wie jener Targi in der alten Legende verhalten. Es wäre ihm widersinnig erschienen, eine schlimme Tat zu begehen, um jemanden zu bestrafen, der sich derselben Tat schuldig gemacht hatte.

      Damals, als die Düsenflugzeuge anfingen, in großer Höhe die Wüste zu überqueren, und als Lastwagen begannen, die bekannteren Pisten zu befahren, so daß sich Ga-cels Volk immer weiter in die schwer zugänglichen Einöden der Wüste zurückziehen mußte, hätte niemand vorhersagen können, wie lange dieses Volk noch im Flachland sein Leben würde befristen können. Für Gacel jedoch stand fest, daß das Gesetz der Gastfreundschaft so lange als heilig betrachtet werden mußte, wie noch einer der Seinen in der Endlosigkeit der menschenleeren, von Sand und Geröll bedeckten hammada lebte, denn andernfalls würde kein Reisender mehr das Wagnis eingehen, die Wüste zu durchqueren.

      Nein, Mubarraks Verfehlung war durch nichts zu rechtfertigen. Er, Gacel Sayah, wollte anderen Menschen, die keine Tuareg waren, vor Augen führen, daß die Gesetze und Bräuche seines Volkes in der Sahara auch künftig respektiert werden mußten, denn diese Gesetze und Bräuche gehörten untrennbar zu seiner Welt.

      Ohne sie gab es keine Hoffnung auf ein Überleben.

      Der Wind frischte auf, und mit ihm kam der Tag. Die Hyänen und Schakale begriffen, daß die Hoffnung auf ein Stück Antilopenfleisch sich zerschlagen hatte. Knurrend und jaulend machten sie sich davon, um, wie alle Tiere der Nacht, ihren dunklen Bau unter der Erde aufzusuchen. Da gab es den fennek, den Wüstenfuchs mit seinen langen Ohren, aber auch die Wüstenratte, die Schlange, den Hasen und den gewöhnlichen Fuchs. Sie alle würden schon schlafen, wenn die Sonne auf die Wüste herabzubrennen begann. Sie schonten ihre Kräfte, bis die Schatten der Nacht das Leben wiederum erträglich machten in dieser trostlosesten Gegend des Planeten Erde. Anders als in anderen Teilen der Welt entfaltete sich hier nachts die regste Tätigkeit, und der Tag diente der Ruhe.

      Einzig der Mensch hatte es in all den Jahrhunderten nicht vollbracht, sich gänzlich an die Nacht anzupassen: Bei Anbruch des Tages machte sich Gacel also auf die Suche nach seinem Kamel, das in einer Entfernung von etwas mehr als einem Kilometer auf dem Boden lag und wiederkäute. Er ergriff die Zügel und setzte ohne Hast seine Reise nach Westen fort.

      Der militärische Außenposten von Adoras umfaßte eine Oase, die fast die Form eines Dreiecks hatte. Dort gab es ungefähr hundert Palmen und vier Brunnen. Die Oase lag mitten in einem riesigen, von Dünen bedeckten Gebiet und war ständig vom Wüstensand bedroht, der sie völlig umzingelt hatte.

      Tatsächlich war es ein Wunder, daß es sie überhaupt noch gab, denn der Sand schützte sie zwar einerseits vor dem Wind, verwandelte sie aber andererseits in einen Backofen, in dem das Thermometer um die Mittagszeit nicht selten auf siebzig Grad kletterte.

      Die drei Dutzend Soldaten, aus denen die Garnison bestand, verbrachten die Hälfte ihrer Zeit damit, im Schatten der Palmen ihr Schicksal zu verfluchen. Ansonsten waren sie damit beschäftigt, Sand zu schaufeln - ein verzweifelter Versuch, die Wüste zurückzudrängen und den schmalen, ungepflasterten Weg freizuhalten, der die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellte. Über ihn wurde die Garnison alle zwei Monate mit Proviant und Post beliefert. Seit vor dreißig Jahren ein halbirrer Oberst auf die absurde Idee gekommen war, die Armee müsse unbedingt jene vier Brunnen unter ihre Kontrolle bringen, galt Adoras zuerst bei den Kolonialtruppen und später, nach der Unabhängigkeit, bei den eigenen Streitkräften des Landes als eine Art »Himmelfahrtskommando«. Von den Männern, die am Rand des Palmenhaines begraben lagen, waren neun eines »natürlichen« Todes gestorben, und sechs hatten sich selbst das Leben genommen, weil sie sich nicht damit abfinden konnten, in dieser Hölle ihr Dasein fristen zu müssen.

      Wenn ein Richter einen zum Galgen oder zu lebenslänglicher Haft verurteilten Verbrecher zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit in Adoras begnadigte, dann wußte er genau, was er tat, mochte der »Begnadigte« anfänglich auch glauben, man habe ihm tatsächlich eine Gunst erweisen wollen.

      Kommandant