Und letztlich gehen wir auch an Religion mit aufklärerischer Vernunft heran und unterwerfen religiöse Geltungsansprüche wie selbstverständlich den Regeln der allgemeinen Menschenrechte und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Die Geheimnisfreiheit unserer modernen westlichen Kultur ist aber wohl nur ein Trugschluss. Das völlige Fehlen von Geheimnis und Tabu ist nämlich kulturgeschichtlich gesehen geradezu unmöglich. Jede Kultur hat nämlich ihre eigenen Geheimnisse, Mythen und Tabus. Und die wirksamsten zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie unsichtbar sind – gerade für die unmittelbar Beteiligten nicht recht zu fassen. Erfasst werden Mythen und Tabus immer erst dann, wenn sie schwach werden, unwirksam und unbrauchbar. Deshalb erkennen wir sie leichter in Kulturen, denen wir nicht oder nicht mehr angehören.
Außerdem geht es bei dem Bermuda-Bild nicht einfach um den Tabu-Charakter von Sexualität, Macht und Religion, sondern um die geheimnisvollen Wechselwirkungen zwischen diesen drei Dimensionen menschlichen Lebens. Dass hinsichtlich dieses Zusammenspiels auch unsere Kultur ihre „blinden Flecken“ hat, darf als sicher gelten.
Nun bin ich als Bibelwissenschaftler kein Experte für die Gegenwart. Deshalb wende ich mich mit meinen Betrachtungen alten, längst vergangenen Kulturen zu. Meiner Profession entsprechend sind meine kleinen, höchst selektiven Ausflüge ins Bermuda-Dreieck menschlicher Existenz also zugleich Zeitreisen. Sie laden ein, ins Fremde zu reisen, um das Eigene zu erkennen. Gerade wenn wir uns sehr fremden Kulturen widmen, wird nahezu unweigerlich immer wieder die Frage aufkommen, was das Ganze mit uns zu tun hat, ob wir es heute denn so ganz anders machen und wenn ja warum.
So hoffe ich, dass Sie auch dort, wo ich nicht selbst die Linien direkt bis zur Gegenwart ausziehe, die Möglichkeit entdecken, sich selbst und Ihre eigene Kultur neu zu begreifen – in Zustimmung und Widerspruch zum Damals und auch zu mir als Autor. Steigen Sie also ein, in unsere kleine Zeitmaschine SE-MA-RE!
I.Eine Frau als König? – Der politische Körper der Hatschepsut
Die erste Zeitreise macht deutlich, dass mit Sexualität nicht nur Sex gemeint ist. Es geht vielmehr auch um das Geschlecht, das uns mitgegeben ist, und um die Geschlechtsrolle (engl. Gender), die uns Kultur und Gesellschaft deshalb zuweisen. Die Geschlechtsrolle ist so etwas wie unser gedachter kultureller, politischer und religiöser Körper. Indem eine Gesellschaft definiert, wie sie Männlichkeit oder Weiblichkeit versteht, weist sie jedem Menschen einen gedachten Körper zu, der seinem / ihrem wahrnehmbaren Körper irgendwie entspricht. Damit verbunden ist die Erwartung, in diesen geistigen Körper hineinzuwachsen, also ein richtiger Mann oder eine richtige Frau zu werden. Diese Erwartungen wirken dann wieder zurück auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers, auf die persönliche Zuordnung dieses Körpers zu einem Geschlecht und sogar auf die Gestaltung dieses Körpers – etwa durch Kleidung, Kosmetik, Training oder operative Eingriffe.
Nun aber genug der Vorrede. Unser kleiner Theorie-Koffer ist gepackt und wir starten unsere erste Zeitreise. Wir sind im Ägypten des Neuen Reiches, etwa in der Mitte des 15. Jahrhunderts v. Chr. Nach kurzer Herrschaft ist König Thutmosis II. gestorben. Für eine seiner Witwen ist dieser Tod ein besonderes Problem. Die „Große Königsgemahlin“ Hatschepsut hat ihrem Ehemann (und Halbbruder) nämlich „nur“ eine Tochter geboren. Als Mädchen ist sie nicht berechtigt, die Krone zu erben. Damit geht die Thronfolge auf den Sohn einer Nebenfrau über. Das kann für Hatschepsut bedeuten, dass sie ein ganz normales Mitglied des königlichen Harems wird – ohne herausgehobene Stellung. Diese gebührte meist der Königsmutter. Verglichen mit den normalen Ägypterinnen ist der Status einer königlichen Dame unvorstellbar privilegiert, aber vielleicht ist er doch zu wenig für die „Spitze der Damen“ (so ähnlich die Übersetzung des Namens Hat-schepsut), die ja genau wie ihr verstorbener Gatte und Halbbruder ein Kind von König Thutmosis I. ist.
Die männliche Erbfolge kann aber offensichtlich nicht außer Kraft gesetzt werden. Sie ist ja auch mehr als nur eine rechtliche Regelung. Sie ist fest verankert im religiösen Rahmen, der das königliche Amt begründet. Die ägyptische Tradition versteht den König als Inkarnation des Himmelsgottes Horus. Er ist „Horus auf dem Thron“ und zugleich Sohn des höchsten Gottes (zunächst des Sonnengottes Re, später dann des Amun-Re). Als Sohn ist der König der Stellvertreter und das Abbild seines göttlichen Vaters. Als Gottessohn hält er durch seine Herrschaft die Welt als Haus seines himmlischen Vaters in Ordnung. Und ein Sohn ist nun einmal männlich.
So wird es auch vom Isis-Horus-Mythos vorausgesetzt. Dieser Mythos identifiziert den König mit Horus, dem Königssohn, der seinen ermordeten Vater Osiris rächt und dessen Herrschaft übernimmt. Solange der König auf Erden regiert, ist er der „lebende Horus“. Und wenn der König stirbt, dann geht er ein in die Rolle des Vaters, er wird zu Osiris. Der Vater-Gott Osiris, der im Jenseits herrscht, ist die (männliche) Gestalt, in die jeder tote König sich verwandeln muss, wenn er seine Königsherrschaft über den physischen Tod hinaus verewigen will.
Die gesamte Königsideologie ist also auf das männliche Geschlecht des Amtsträgers ausgerichtet. Das drückt sich auch in den königlichen Titeln und in seinem Ornat aus. Der König führt den Titel „Sohn des Re“, trägt selbstverständlich männliche Kleidung, einen Zeremonialbart und einen Stierschwanz, der ihn als „Starker Stier“ kennzeichnet.
Das Amt des Königs ist also durch und durch männlich bestimmt. Für eine weibliche Besetzung ist da kein Spielraum. Es überrascht also nicht, dass der Sohn einer Nebenfrau, auch wenn er noch ein Kind war, das Erbe seines Vaters antreten musste, während dies Hatschepsuts Tochter Neferure verwehrt blieb.
Abb. 1: Ein Fragment aus dem Karnak-Tempel zeigt Hatschepsut mit dem Titel (markiert) und in der typischen Tracht einer „Großen Königsgattin“ (Geierhaube und Doppelfederkrone, busenfreies Trägerkleid) beim Opfer. (Graphik JK)
Irgendwie ließ sich aber der drohende Bedeutungsverlust für Hatschepsut abwenden. Sie übernimmt anstelle der rangniederen Königsmutter die Vormundschaft für den unmündigen Knaben, der als König Thutmosis III. installiert wird. Solche Konstruktionen stellvertretender Herrschaft von Frauen waren in der ägyptischen Geschichte zwar selten, aber nicht unmöglich. Selbstverständlich wird Hatschepsut in der Zeit der stellvertretenden Regentschaft auf den Reliefs so abgebildet, wie es sich für eine Königsgemahlin gehört, nämlich als Frau.
Von der Königsgattin zum König
Die Vormundschaft von Frauen für den unmündigen König störte die männliche Königstradition nicht. Außergewöhnlich, ja eigentlich unmöglich war aber, dass Hatschepsut nach wenigen Jahren selbst das Königsamt übernahm. Sie agierte nicht mehr als Stellvertreterin, sondern als König mit allen Rechten. Sie trug jetzt die Titel ägyptischer Könige und den Thronnamen Maat-Ka-Re. Um aber selbst König zu sein, musste sie zwei große Probleme lösen: Erstens saß mit Thutmosis III. schon ein rechtmäßiger König auf dem ägyptischen Thron. Und zweitens hatte sie für das Königsamt das falsche Geschlecht.
Die einfachste Lösung für das erste Problem wäre wohl die Ermordung des Knaben gewesen. Als „Gott“ konnte ein altägyptischer König zwar nicht in Rente geschickt werden, aber man konnte ihn umbringen. Aus Gründen, die wir nicht kennen, wählte Hatschepsut eine andere Lösung. Sie leugnete die kurze Herrschaft ihres Mannes Thutmosis II. und stellte sich als direkte Nachfolgerin ihres Vaters Thutmosis I. dar. Thutmosis III. deklarierte sie als „zukünftigen“ König und „erhob“ ihn zu ihrem Mitregenten. Das Modell des Ko-Regenten mit Nachfolgerecht war aus der ägyptischen Geschichte bekannt. Und so konnte Hatschepsut mit diesem Modell als eigentlicher König gelten, ohne ihren Neffen und Stiefsohn um seinen Thronanspruch zu bringen.
Damit war Hatschepsut aber immer noch eine