Auch die politischen Ambitionen Kleists erfordern ein Fragezeichen hinter den scheinbar klaren Aussagen. Im Dezember 1805 schrieb er an von Lilienstein: «Ja, mein guter Rühle, was ist dabei zu tun. Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben» (Kleist, 1994, II: 761). Bekräftigt wurde das Interesse an der Politik im Brief an Karl Freiherrn von Stein (Dresden, 1. Januar 1809): «... so will ich lauter Werke schreiben, die in die Mitte der Zeit hineinfallen» (Kleist, 1994, II: 820). Das Ergebnis waren Lobreden im hohen Stile, Lehrbücher und Katechismen, Proklamationen, fiktive Briefe, operative Gattungen wie Fabeln und Satiren, Programme und Essays sowie eine aggressive Kriegslyrik (Kriegslied der Deutschen, Germania an ihre Kinder). Die operative Begrenzung dieser Gattungen wurde Kleist als sprachkritischem Autor schnell klar (Essen, 2005). Kleist nahm wahr, dass ein politisches Engagement auch Lebenssinn produzieren konnte. Die Beschreibungen des auf dem Wege des Untergangs befindlichen Selbst und das politische Schreiben als Barde für den Widerstand Deutsch-lands gegen die französischen Untermenschen, die nach Kleists eigenem Bekunden nur auf der untersten Stufe von Tieren stehen würden – so Kleist im Kriegslied der Deutschen –, verweisen auf eine ästhetische Inszenierung. Anders als sein Verwandter, der preußische Offizier Ewald von Kleist, hauchte der Dichter sein Leben nicht auf dem Schlachtfeld aus.
Kleist, der seine Texte sorgfältig konstruierte und kombinierte, beschäftigte sich intensiv mit den Fragen seiner Zeit und antwortete mit seinen Dramen und Novellen auf diese. Dramen und Novellen sind keine Essays oder Abhandlungen, doch sie verfügten in der Aufklärung über theoretische Grundannahmen. Seit Platon und Aristoteles, aber auch im Mythos vom Sündenfall, stellte sich die Frage nach dem ganzen Menschen, dem Sinn seines Daseins, seiner Stellung innerhalb der Welt. Kleist wandte sich diesen Problemen zu, den Fragen nach dem Menschen als Vernunft- und als Naturwesen, nach der freien Entscheidung und dem kantischen «radikal Bösen», der Frage nach dem Naturzustand und der Leistung der Kultur, nach dem Verhältnis von Leib, Psyche und Seele. Die Forschungen zu Kleist arbeiteten deutlich die Bezüge zur Anthropologie der späten Aufklärung heraus (Košenina, 2009; Bennholdt-Thomson, 2005). Die von Kleist thematisierten verworrenen Zustände waren schon lange vorher Gegenstand der Theorien von den menschlichen Seelenvermögen bei Christian Wolff und bei Gottfried Wilhelm Leibniz (Kleist, 1994, II: 654). Die Vertreter der modernen Anthropologie kannte Kleist meist persönlich. Während der Würzburger Reise hörte er die Vorlesungen von Ernst Plattner (1801). Im Juliusspital in Würzburg erlebte Kleist eine Reihe von psychisch Kranken während ihrer Leiden. Mit dem Göttinger Johann Friedrich Blumenberg und dem Magazin für Erfahrungsseelenkunde von Karl Philipp Moritz beschäftigte sich Kleist, angeregt durch seinen Erzieher Christian Ernst Wünsch und dessen Lehrbuch Kosmologische Untersuchungen für die Jugend (Leipzig, 1778-1780, 3 Bde.). Der Mediziner Georg Wedekind, von welchem sich Kleist in der Zeit von Dezember 1803 bis Juni 1804 behandeln ließ, publizierte in Moritz’ Magazin. Wedekind eröffnete auch den Weg zu den mesmeristischen Experimenten von Christoph Ludwig Hoffmann und Eberhard Gmelin, deren Vorstellungen einigen Einfluss auf das Schauspiel Käthchen von Heilbronn ausgeübt haben (Weder, 2008; Peters, 1990). Bei Gmelin fand sich auch die Geschichte mit den grünen Augengläsern, die Kleist im März 1801 aufgriff (Kleist, 1994, II: 634; Mandelartz, 2006). Die Vorlesungen des Psychiaters Johann Christian Reil kündigte Kleist 1810 in seinen Abendblättern an (Kleist, 1959). Kleist besuchte 1807 die Vorlesungen von Gotthilf Heinrich Schubert über die Ansichten von den Nachtseiten der Naturwissenschaften. Schubert vertrat die These von einer dreifachen Natur des Menschen, der aus Leib, Seele und Geist bestehen sollte. Nach Schubert soll der Mensch von Ich-Sucht beherrscht sein und ständigen Metamorphosen unterliegen. In ihm kämpften die beiden Wünsche nach dem Tod und nach der Liebeserfüllung miteinander. Im Traum würden diese Sehnsüchte geäußert, sie erschienen als Hieroglyphen, die mit der Zeit die Form universaler Symbole annähmen (Schubert, 1961; Ellenberger, 1985).1 Für Kleist bedeutete dies, dass der Mensch nicht mehr im Naturzustand lebte, sondern in einer modernen Zerrissenheit. Er befand sich damit im Zentrum der Debatten über den Sinn des menschlichen Daseins.
Es war das Verdienst des Novalisforschers Josef Kunz, auf die Modellhaftigkeit von Kleists anthropologischem Grundverständnis hingewiesen zu haben. Kunz entdeckte in der Penthesilea und der Geschichte der Marquise von O... eine Ausformung der Theorie der verschiedenen Stufen der Wesen. Kunz fasste zusammen:
Danach gibt es also in Kleists Vorstellung verschiedene Stufen, Ebenen, Stadien des Lebens. Es gibt die Stufe der Existenz mit ihrer Entfremdung vom Grunde, mit ihrem Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen, zwischen Gewissheit und Ungewissheit. Und es gibt die Stufe der Präexistenz, in die die Zweideutigkeit und Spaltung nicht hineinreichen. Der Mensch aber lebt [...] offenbar auf diesen verschiedenen Stufen des Lebens zugleich (Kunz, 1967: 684).
Es handle sich um eine Dreistufenlehre, bestehend aus Präexistenz, Existenz, Überwindung der Krise und Ahnung der Vollkommenheit.
Der Blick ins 18. Jahrhundert zeigte, dass Kleist die gängigen Theorien der Stufenleiter der Wesen bekannt waren. Doch dürfte er mit der Lehre der Präexistenz kaum ein Schüler des Origines gewesen sein, auch eine Nähe zur Existenzphilosophie von Sören Kierkegaard lässt sich nicht beweisen. Doch die Theorie der great chain of being beschäftigte Aufklärung und Romantik (Lovejoy, 1993). Die Anfänge der Theorie fanden sich bei Aristoteles, der drei Stufen unterschied: a) vegetative Funktionen, Wahrnehmung und Bewegung sowie Denkvermögen, b) die Wärme des Körpers und c) den Grad der Komplexität von Körpern. Interessant wäre es, hier die Metaphern der Temperaturen bei Kleist mit Blick auf die Theorie der Kette der Wesen zu analysieren. Denn häufig werden den Figuren Temperaturen zugewiesen, so dass diese kalt wie Eis oder heiß wie eine Sonne erscheinen. Aristoteles behauptete auch, dass eine entscheidende Differenz des Menschen zur Welt im Besitz einer Seele liege. Mediziner und Literaten wie Leibniz, John Locke, Joseph Addison, Bolingbroke, Akenside, Thomson, Buffon, Bonnet, Goldsmith, Diderot, Lambert, Pope, Albrecht von Haller, Kant, Herder und Schiller schlossen sich den Theorien an.2 Beschrieben wurde die Kette der Wesen von Alexander Pope in Essay on Man (1734):
Der Wesen Kette, die mit Gott begann,
ätherisch hohe Wesen, Engel, Mann,
Tier, Vögel, Fisch, Insekt, was Augen hier
Nicht sehen: vom Unendlichen zu Dir,
von Dir zum Nichts... (Pope 1993: 33).
Immanuel Kant vertrat in der Allgemeinen Naturgeschichte ähnliche Auffassungen (Kant, 1983, I: 386 f.). Der Mensch nehme eine Mittelstellung zwischen dem Nichts und der absoluten Vollkommenheit ein. Als Mittelwesen könne er nie die Gottheit verstehen, denn der Körper ziehe ihn ins Naturreich hinab.
Der biblische Mythos vom Sündenfall, der Kleist oft beschäftigte bis dahin, dass er empfahl, die Hintertüre des Paradieses zu suchen, erweiterte die Theorie (Kurz, 1981/82) ebenso wie der antike Mythos. Als Minimum finden sich daher in seinem Werk drei ineinander verschränkte Ebenen: Gottheiten, Menschen und Tiere. Die Gottheiten traten plötzlich ins Leben der Menschen, wie ein Blitzesstrahl. Jupiter aus dem Amphitryon oder Friedrich