Nehmen wir beispielsweise an, Sie begegnen auf Ihrem Weg zur Arbeit einem Obdachlosen, der um Geld bettelt. Anstatt an ihm vorbeizueilen oder ihn als wertlosen Trunkenbold zu verurteilen, könnten Sie innehalten und überlegen, wie schwierig das Leben dieses Menschen wohl sein muss. Was ist seine Geschichte? Bekommt er die psychosoziale Versorgung und Unterstützung, die er braucht? In dem Moment, in dem Sie diesen Mann tatsächlich als leidendes menschliches Wesen sehen, wird sich Ihr Herz mit ihm verbinden. Anstatt ihn zu ignorieren, stellen Sie fest, dass Sie von seinem Schmerz berührt werden, und verspüren den Wunsch, auf irgendeine Weise zu helfen. Wichtig ist: Wenn Sie Mitgefühl empfinden, anstatt bloß Mitleid zu haben, sagen Sie sich: »Er ist genau wie ich ein Mensch. Wäre ich in andere Umstände hineingeboren worden oder hätte ich einfach nur Pech gehabt, müsste ich vielleicht auch so ums Überleben kämpfen. Wir sind alle verwundbar.«
Es könnte natürlich auch ein Moment sein, in dem Sie Ihr Herz völlig verschließen. Ihre Angst, vielleicht selbst einmal auf der Straße zu landen, kann dazu führen, dass Sie sich distanzieren und den Mann »entmenschlichen«. Doch diese Verhärtung des Herzens, die oft mit einem Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Obdachlosen einhergeht, führt wahrscheinlich nur dazu, dass man sich isoliert und abgeschnitten fühlt. Nehmen wir aber einmal an, Sie empfinden wirklich Mitgefühl mit dem Mann. Wie fühlt es sich an? Eigentlich fühlt es sich ziemlich gut an. Es ist wunderbar, wenn sich das Herz öffnet – man fühlt sich sofort verbundener, lebendiger, gegenwärtiger.
Was wäre jedoch, wenn er nur um Geld bettelte, um sich etwas Alkoholisches zu kaufen? Sollten Sie ihm trotzdem Mitgefühl entgegenbringen? Ja. Sie müssen ihm sicherlich kein Geld geben, wenn Sie das für unverantwortlich halten, aber er hat dennoch Mitgefühl verdient – wie wir alle. Mitgefühl ist nicht nur für diejenigen, die schuldlose Opfer sind, sondern auch für die, deren Leiden auf persönliches Versagen, Schwächen oder schlechte Entscheidungen zurückzuführen ist – solche, die wir alle jeden Tag fällen. Allein die Tatsache, dass wir bewusste, menschliche Wesen sind, die das Leben auf diesem Planeten erfahren, bedeutet, dass wir grundsätzlich wertvoll sind und Fürsorge verdienen. Dem Dalai Lama (1984/2012a) zufolge »wollen die Menschen von Natur aus glücklich sein und nicht leiden. Mit diesem Grundgefühl versucht jeder Mensch, Glück zu erreichen und das Leiden hinter sich zu lassen, und alle haben das Recht, danach zu streben … grundsätzlich sind wir, wenn wir den wahren Wert des Menschen betrachten, alle gleich.«
Ein Recht auf Mitgefühl müssen wir uns nicht verdienen; es ist unser Geburtsrecht. Wir sind Menschen, und unsere Fähigkeit, zu denken und zu fühlen – gepaart mit unserem Wunsch, glücklich zu sein und nicht zu leiden –, rechtfertigt Mitgefühl um seiner selbst willen.
Die Elemente des Selbstmitgefühls
Selbstmitgefühl hat die gleiche Qualität wie Mitgefühl für andere – mit dem einzigen Unterschied, dass es nach innen gerichtet ist. Es geht um das klare Erkennen unseres eigenen Leidens, um eine fürsorgliche Antwort auf unser Leiden, die den Wunsch zu helfen sowie die Erkenntnis einschließt, dass Leiden Teil der gemeinsamen Erfahrung des Menschseins ist (Neff, 2003b). Die Elemente des Selbstmitgefühls unterscheiden sich, je nachdem, wie Individuen emotional auf Leiden antworten (mit Freundlichkeit anstatt mit Urteilen), wie sie ihr Leiden kognitiv einordnen (als Teil des menschlichen Daseins oder als isolierend) und Schmerz wahrnehmen (auf achtsame Weise anstatt übermäßig identifiziert; Neff, 2016b). Beachten Sie, dass wir den Begriff »Leiden« umfassend verwenden, um jeden Moment des Schmerzes oder Unbehagens, sei er groß oder geringfügig, zu bezeichnen. Selbstmitgefühl ist sowohl im Hinblick auf persönliche Unzulänglichkeiten, Fehler und Misserfolge relevant als auch in der Konfrontation mit schmerzlichen Lebenssituationen, die unserer Kontrolle entzogen sind (Germer, 2009).
Freundlichkeit gegenüber sich selbst versus Selbstverurteilung
Die meisten von uns versuchen, freundlich und rücksichtsvoll gegenüber Freunden und Angehörigen zu sein, wenn diese einen Fehler machen, sich unzulänglich fühlen oder ein Unglück erleben. Wir bieten vielleicht Unterstützung an und äußern Verständnis, um sie wissen zu lassen, dass wir Anteil nehmen – auch eine körperliche Geste der Zuneigung wie eine Umarmung kommt in Betracht. Wir fragen sie vielleicht: »Was brauchst du jetzt, in diesem Moment?« Und wir überlegen, was wir tun können, um zu helfen.
Seltsamerweise behandeln wir uns selbst oft ganz anders. Wir sagen uns harte und grausame Dinge, die wir niemals zu einer Freundin sagen würden. Tatsächlich sind wir oft härter gegen uns selbst als gegenüber Menschen, die wir nicht einmal besonders mögen. Die Freundlichkeit, die mit Selbstmitgefühl verbunden ist, beendet jedoch die ständige Selbstverurteilung und abwertenden inneren Kommentare, die die meisten von uns als normal ansehen. Unsere inneren Dialoge werden wohlwollend und ermutigend anstatt strafend oder herabwürdigend, was eine freundlichere und eher unterstützende Haltung uns selbst gegenüber widerspiegelt.
Wir beginnen unsere Schwächen und unser Versagen zu verstehen, statt sie zu verurteilen. Wir erkennen unsere Unzulänglichkeiten an, während wir uns bedingungslos als fehlerhafte und unvollkommene Menschen akzeptieren. Und vor allem erkennen wir, in welchem Maße wir uns durch unerbittliche Selbstkritik schaden, und wählen einen anderen Weg.
Zur Freundlichkeit gegenüber uns selbst gehört jedoch mehr, als die Selbstkritik zu beenden. Es geht darum, bewusst unser Herz für uns selbst zu öffnen und auf unser Leiden zu antworten, wie wir es bei einem lieben Freund in Not tun würden. Wir können uns urteilslos akzeptieren und darüber hinaus inmitten emotionaler Turbulenzen auch trösten und gut für uns sorgen. Wir wollen versuchen, uns selbst zu helfen, wollen unseren Schmerz lindern, wenn wir können. Normalerweise konzentrieren wir uns sogar bei unvermeidbaren Problemen wie einem unvorhergesehenen Unfall mehr darauf, das Problem zu lösen, als auf den fürsorglichen Umgang mit uns selbst. Wir behandeln uns mit kaltem Stoizismus anstatt mit liebevoller Fürsorge und wechseln direkt in den Problemlösungsmodus. Aber wenn wir freundlich mit uns umgehen, lernen wir, uns in schwierigen Lebensphasen zu nähren, und können uns unterstützen und ermutigen. Wir lassen uns von unserem eigenen Schmerz berühren. Wir halten inne und sagen uns: »Das ist jetzt wirklich schwierig. Wie kann ich in diesem Moment für mich selbst sorgen?« Wenn wir in irgendeiner Weise bedroht sind, versuchen wir, uns aktiv zu schützen.
Wir können nicht perfekt sein, und es wird immer Konflikte und Probleme in unserem Leben geben. Wenn wir unsere Unzulänglichkeiten leugnen oder ablehnen, vergrößern wir unser Leiden durch Stress, Frustration und Selbstkritik. Bringen wir uns aber Güte und Wohlwollen entgegen, rufen wir positive Gefühle der Liebe und Fürsorge wach, die uns helfen, mit den Schwierigkeiten umzugehen.
Erfahrung gemeinsamen Menschseins versus Isolation
Selbstmitgefühl geht eher mit einem Gefühl der Verbundenheit als mit dem Gefühl des Getrenntseins einher. Eines der größten Probleme mit harter Selbstverurteilung besteht darin, dass sie uns normalerweise das Gefühl gibt, isoliert und von anderen abgeschnitten zu sein. Wenn wir scheitern oder uns in irgendeiner Weise unzulänglich fühlen, kommen wir zu dem irrationalen Schluss: »Alle anderen sind in Ordnung. Ich bin der einzige hoffnungslose Versager.« Das ist kein logischer Denkprozess, sondern eine emotionale Reaktion, die unser Denken verengt und die Realität verzerrt. Selbst wenn in unserem Leben Dinge schiefgehen, für die wir uns nicht verantwortlich machen (leider geben wir uns an fast allem die Schuld), neigen wir dazu zu glauben, andere hätten es leichter und unsere