Achtsamkeit und Mitgefühl
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hatte die Erforschung der positiven Effekte der Achtsamkeit Hochkonjunktur. Achtsamkeit wurde grob definiert als »ein Gewahrsein, das entsteht, wenn man der eigenen Erfahrung im gegenwärtigen Moment unvoreingenommen, so wie sie sich von einem Augenblick zum nächsten entfaltet, bewusst Aufmerksamkeit schenkt« (Kabat-Zinn, 2003). Achtsamkeit fördert das geistige und körperliche Wohlbefinden auf vielfältige Weise und bildet somit die Grundlage für ein Leben, in dem wir weise und mitfühlend handeln. Das Gegenteil von Achtsamkeit ist jener Zustand, in dem wir uns im Autopilot-Modus befinden, Tagträumen über die Vergangenheit und Zukunft nachhängen und kaum dessen gewahr sind, was in uns oder um uns herum passiert. Geistiges Abschweifen, obgleich natürliche Veranlagung unseres Gehirns, kann uns an dunkle Orte des Bedauerns und der Sorge führen, aus denen wir uns vielleicht erst nach Tagen, Wochen oder Monaten wieder befreien können.
Bei unseren gegenwärtigen Definitionen von Achtsamkeit gibt es die Tendenz, Aufmerksamkeit und bewusste Wahrnehmung über die Qualitäten des achtsamen Gewahrseins wie Akzeptanz, liebevolle Güte und Mitgefühl zu stellen. Das ist bedauerlich, und unsere Sprache trägt sicherlich zu dieser einseitigen Sichtweise der Achtsamkeit bei. So ist beispielsweise das Wort »Achtsamkeit« eine Übersetzung des alten Pali-Wortes sati, das sich auf Gewahrsein bezieht, und es wird mit dem Pali-Wort citta assoziiert, das wörtlich »Herz-Geist« bedeutet. Wir haben kein Wort für »Geist« oder »Gewahrsein«, das gleichzeitig die mentalen und emotionalen Aspekte des achtsamen Gewahrseins einschließt.
Um die Dinge noch ein bisschen komplizierter zu machen: Wenn jemand sagt: »Ich praktiziere Achtsamkeitsmeditation«, bezieht er oder sie sich wahrscheinlich auf einen oder mehrere der drei folgenden Arten von Meditation: 1) fokussierte Aufmerksamkeit, 2) offenes Gewahrsein oder 3) liebevolle Güte und Mitgefühl (Salzberg, 2011b). Fokussierte Aufmerksamkeit (oder Konzentration) ist eine Praxis, bei der man mit der Aufmerksamkeit immer wieder zu einem bestimmten Objekt zurückkehrt, beispielsweise zum Atem. Konzentration hilft, den Geist zu beruhigen. Offenes Gewahrsein (oder ungerichtete [wahlfreie] Aufmerksamkeit) bedeutet, dass wir den Dingen Aufmerksamkeit schenken, die in unserem Bewusstseinsfeld Augenblick für Augenblick in den Vordergrund treten und am lebendigsten sind. Offenes Gewahrsein verhilft Praktizierenden zu einem erweiterten Bewusstsein und einem Verständnis der Natur des Geistes. Liebevolle-Güte- und Mitgefühls-Meditation helfen, sich selbst und anderen gegenüber jene Qualitäten der Warmherzigkeit und des Wohlwollens zu entwickeln, die unerlässlich für die Akzeptanz und Transformation schwieriger innerer Zustände sind.
Die Achtsamkeitsforschung hat sich größtenteils auf die Praxis der fokussierten Aufmerksamkeit und auf offenes Gewahrsein konzentriert. Seit einigen Jahren wird aber auch zunehmend über Liebevolle-Güte- und Mitgefühlsmeditation geforscht (Hofmann, Grossman und Hinton, 2011). Neurologische Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass alle drei Meditationsformen sich überschneidende, aber dennoch unterscheidbare Gehirnmuster erzeugen (Brewer et al., 2011; Desbordes et al., 2012; Lee et al., 2012; Leung et al., 2013; Lutz, Slagter, Dunne und Davidson, 2008). Für die Zwecke dieses Buches ist es am einfachsten, achtsames Gewahrsein, das die Herzqualitäten einschließt, als liebevolles Gewahrsein oder mitfühlendes Gewahrsein zu beschreiben.
Im Zustand vollständiger Achtsamkeit – wenn wir uns inmitten der vollen Bandbreite unserer Gedanken, Gefühle und Empfindungen innerlich ruhig und wach fühlen – ist unser Gewahrsein von einer Haltung der liebevollen Güte und des Mitgefühls durchdrungen. Volle Achtsamkeit fühlt sich an wie die Liebe selbst. Leider ist unsere Achtsamkeit selten vollständig, sondern den Umständen entsprechend mit Angst, Anspannung, Sehnsucht oder Verwirrung gemischt. Das ist besonders dann der Fall, wenn die Dinge in unserem Leben schwierig werden – wenn wir leiden, scheitern oder uns unzulänglich fühlen. Nicht nur, dass unser Gewahrsein durch unsere Stimmungen gefärbt wird, auch unsere Selbstwahrnehmung wird dann oft »in Geiselhaft genommen«, und wir verstricken uns in Selbstkritik und Selbstzweifeln. Das kann von »Ich fühle mich schlecht«, über »Ich mag dieses Gefühl nicht«, »Ich will dieses Gefühl nicht«, »Ich sollte dieses Gefühl nicht haben«, »Mit mir stimmt etwas nicht« bis hin zu »Ich bin schlecht!« gehen. Im Handumdrehen wird also aus »Ich fühle mich schlecht« »Ich bin schlecht«. Hier ist Selbstmitgefühl gefragt. Manchmal müssen wir zunächst uns selbst – den Erfahrenden – trösten und beruhigen, bevor wir auf achtsamere Weise mit unserer Erfahrung umgehen können.
Selbstmitgefühl kann als das Herz der Achtsamkeit betrachtet werden, wenn wir persönlichem Leiden begegnen. Achtsamkeit lädt uns ein, uns dem Leiden im weiten Gewahrsein zu öffnen. Selbstmitgefühl sagt: »Sei freundlich zu dir mitten im Leiden.« Achtsamkeit fragt: »Was erlebe ich?« Selbstmitgefühl fügt hinzu: »Was brauche ich?« Gemeinsam führen Achtsamkeit und Selbstmitgefühl in einen Zustand warmherziger, akzeptierender Präsenz in schwierigen Momenten unseres Lebens. Sie sind wie beste Freunde.
Die Forschung zeigt, dass Selbstmitgefühl mit psychischem Wohlbefinden verbunden ist, das heißt, psychopathologische Zustände (wie Besorgtheit, Depressionen und Stress) nehmen ab, während positive innere Zustände (wie Glücksempfinden, Optimismus und Lebenszufriedenheit) zunehmen (Barnard und Curry, 2011; MacBeth und Gumley, 2012; Neff, Long et al., 2018; Zessin, Dickhauser und Garbade, 2015). Selbstmitgefühl wird auch mit Motivationssteigerung, gesunden Verhaltensweisen, verbesserter Immunfunktion, einem positiven Körperbild und erhöhter Resilienz assoziiert (Allen und Leary, 2010; Braun, Park und Gorin, 2016; Breines und Chen, 2012; Friis, Johnson, Cutfield und Consedine, 2016; Terry und Leary, 2011) sowie mit einer Zunahme an fürsorglichem und mitfühlendem Beziehungsverhalten (Neff und Beretvas, 2013; Yarnell und Neff, 2013). Mit anderen Worten: Selbstmitgefühl hat viele Vorteile und ist es wert, kultiviert zu werden (siehe Kapitel 3).
Mindful Self-Compassion (MSC)
Das Mindful-Self-Compassion-(MSC-)Programm war das erste Trainingsprogramm, das für ein breites Publikum speziell zur Kultivierung von Selbstmitgefühl entwickelt wurde. Achtsamkeitsbasierte Trainingsprogramme wie Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR, Kabat-Zinn, 1990) und Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (MBCT, Segal, Williams und Teasdale, 2013) fördern ebenfalls das Selbstmitgefühl (siehe Kapitel 4), aber sie tun dies implizit, es ist dabei sozusagen willkommenes Nebenprodukt. Wir fragten uns: »Was würde passieren, wenn die Fähigkeit zum Selbstmitgefühl explizit als Hauptschwerpunkt des Trainings gelehrt würde?«
MSC ist lose an das MBSR-Programm angelehnt, und zwar sowohl durch seinen Fokus auf erfahrungsbasiertem und introspektivem Lehren als auch durch seine Struktur (acht wöchentliche Sitzungen zu je zwei Stunden plus ein Retreat-Tag). Einige Hauptpraktiken von MBSR wurden für MSC modifiziert, indem die Qualität des Gewahrseins – nämlich Warmherzigkeit, und Freundlichkeit – in diesen Übungen hervorgehoben wird. Die meisten MSC-Praktiken wurden speziell entwickelt, um Mitgefühl und Selbstmitgefühl zu kultivieren.
Die akkurate Bezeichnung für MSC wäre also »Achtsamkeitsbasiertes Selbstmitgefühlstraining«. Es ist eine Verbindung aus Achtsamkeit und Mitgefühl mit dem Fokus auf Selbstmitgefühl. Achtsamkeit ist das Fundament des Selbstmitgefühls, denn wenn wir leiden, müssen wir dies achtsam wahrnehmen (keine geringe Leistung!), um mitfühlend darauf antworten zu können. Obwohl Achtsamkeit bereits Teil des Selbstmitgefühls ist, haben wir dieses Programm »Achtsames Selbstmitgefühl« (»Mindful Self-Compassion«) genannt, um die Schlüsselrolle der Achtsamkeit im Selbstmitgefühlstraining hervorzuheben. Weitere Informationen zur Integration von Achtsamkeit in MSC finden Sie in Kapitel 11 (Sitzung 2).
MSC wurde für die breite Öffentlichkeit entwickelt. Es wirkt therapeutisch, aber es ist keine Psychotherapie. Der Schwerpunkt von MSC liegt auf dem Aufbauen der Ressourcen der Achtsamkeit und des Selbstmitgefühls. Im Gegensatz dazu fokussiert sich die Psychotherapie mehr auf das Heilen alter Verletzungen. Da MSC ein strukturiertes Schulungsprogramm ist, das über einen begrenzten Zeitraum stattfindet, können wir uns dabei nicht auf die Einzelheiten des Lebens einer jeden Person fokussieren, wie wir es in einer Einzel- oder Gruppentherapie tun könnten. Dennoch berichten viele MSC-Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer,