Seit die Praxisgebühr weg ist, schreiben mir Versicherungen und bieten mir den Abschluss einer Zusatzversicherung an, und zwar für die Kostenerstattung! Was die für Folgen für den einzelnen Versicherten hat in diesem Land, das hab ich mal drei Monate lang über unsere schöne ›Bürgerschulterschluss‹-Bewegung durchspielen lassen. Die Leute in 600 Bürgertreffs gingen zu ihren Kassen und haben gefragt, wie das aussieht, wenn auf Direktabrechnung/Kostenerstattung umgestellt wird. Und was kam raus? Sie glauben’s nicht! Bei der Kostenerstattung nach § 13 SGB V erstatten die Kassen aufgrund eines speziellen Berechnungsschlüssels nur einen Teil der eingereichten Arztrechnung, so z.B. die Barmer GEK, nur 40 Prozent! Also die zahlen 40 Prozent der Arztrechnung und 60 Prozent zahl ich selber! Passen Sie auf! Das ist Sprengstoff, davon wird noch nicht laut gesprochen. Das regt mich wahnsinnig auf, da werde ich wütend, wenn eine Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung sagt: So, die Praxisgebühr ist weg, jetzt gehen wir den zweiten Schritt, jetzt gehen wir in Richtung Kostenerstattung. Ob wir Kassenpatienten das wollen oder nicht, das ist den Ärzten vollkommen egal. Die hätten ja dann ihr Geld schon und sie finden, das ist die Sache der Patienten, sich die 100 Prozent zu erkämpfen.
Genau hier ist mein Ansatz der Verärgerung: Keiner der Ärzte, die Kostenerstattung fordern, hat sich um die praktische tatsächliche Umsetzung gekümmert und was das für uns als Kassenpatienten bedeutet. Die Ärzte haben nur diesen Hauptblickwinkel: Wie sieht es auf meinem Konto aus? Von den hundertvierzigtausend niedergelassenen Ärzten, die es ungefähr gibt, kann man vielleicht mit zehn davon eine halbe Stunde über die Probleme des Gesundheitssystems reden, ohne dass sie gleich auf ihr Geld zu sprechen kommen. Ich kenne mindestens drei Dutzend Sprechstundenhilfen persönlich, die mir erzählt haben, dass sie von ihren Ärzten Geld bekommen, wenn sie teure Patienten wegschicken und wenn sie IGeL-Leistungen verkaufen. Man muss es so sagen: Ein Großteil der Ärzte, insbesondere der Fachärzteschaft, ist dafür, das Solidarsystem abzuschaffen. Das ist ein Skandal. Jeder, der das will und an unserem Beitragsgeld, an unserer Krankheit, an unserem Alter, an unserem Leid profitiert, betreibt Demontage aus purem Eigennutz.
Und auf der anderen Seite sind da die Kassen. Ich habe festgestellt, wir sind im 128. Jahr der Geschichte der gesetzlichen Krankenkassen, und heute sind wir fast am Ende angekommen. Der Weg, der eingeschlagen wurde, der hieß: Bürokratisierung, Detailkontrolle und Übernahme betriebswirtschaftlicher Methoden. Das führt zum Untergang von dem, was gut ist, nämlich dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Es geht nicht mehr um eine gute Versorgung, es geht primär ums Geschäft. Es geht um jährlich etwa 180 Milliarden, die ins Solidarsystem unseres Gesundheitswesens eingezahlt werden – in den sogenannten Gesundheitsfonds, der wurde ja als Inkassostelle installiert, zur Verteilung der Beitragsgelder an die Kassen. Nebenbei bemerkt, Ende 2012 hat der Gesundheitsfonds 12,7 Milliarden Überschuss, und da sind Milliardenüberschüsse in den Töpfen der Kassen, die sie ›Rücklagen‹ nennen, gar nicht mitgezählt. Dann kommt noch ein dicker Batzen Geld zusammen, durchschnittlich jährlich 350–400 Euro je Kassenpatient, die aus eigener Tasche bezahlt werden müssen, weil zahlreiche Behandlungen nicht mehr erstattet werden von den Kassen. Und auf diesen riesigen Geldfluss richten sich natürlich viele Begehrlichkeiten. Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Pharmaindustrie und so fort, alle wollen ihren Anteil aus der Beute herausreißen. Der Gesundheitsmarkt ist der größte Wachstumsmarkt Deutschlands. Das muss man laut aussprechen.
Die Macht, die die gesetzlichen Krankenkassen haben, aufgrund unseres Geldes nämlich, die ist ungeheuer groß. Diese Krankenkassen, die unsere Milliarden an Beitragsgeldern lediglich verwalten sollen, verfügen aber großzügig darüber, betrachten es als ›ihren‹ Reichtum. Von den Verwaltungspalästen, die sie sich bauen, ist schon viel berichtet worden. Weniger bekannt ist, dass sie immer mehr Konzerncharakter kriegen, dass sie krakenhaft unentwegt GmbHs gründen. Beispielsweise hat die AOK eine GmbH für Reisen, auch eine GmbH für Medien, die wiederum Verträge hat mit Sat.1, mit dem Stern und wie sie alle heißen. Ja, wo sind wir denn?! Die Allgemeinen Ortskrankenkassen sind aber zunächst einmal ›Körperschaften des öffentlichen Rechts‹. Sie arbeiten in staatlichem Auftrag. Sie verwalten die Beiträge ihrer Mitglieder, Arbeitnehmer und Arbeitgeber überlassen sie ihnen zu ›treuen Händen‹, wie man so schön sagt. Gehören da superteure Fernsehwerbespots, Plakataktionen und Videos auf Onlineseiten dazu? Gehört dazu eine Firma wie die ›AOK Systems GmbH‹? Das Unternehmen zählt mit Sitz in Bonn und Niederlassungen in Hamburg, Frankfurt, Stuttgart und München nach eigenen Angaben zu den ›erfolgreichsten‹ IT-Beratungs- und Entwicklungshäusern im Gesundheitswesen. Sein Umsatz betrug 2010 rund 89 Millionen Euro. Zu den Kunden gehören die 12 Ortskrankenkassen mit vier Rechenzentren, zwei Betriebskassen, die Barmer GEK, die Hanseatische Krankenkasse, die Knappschaft Bahn-See und der GKV-Spitzenverband. Stammkapital: 600.000 Euro. Wichtigster Partner ist der Software-Riese SAP.
So. Nun müssen Sie dazu noch bedenken, dass man zur Gründung einer GmbH ja ein Eigenkapital braucht. Wo haben sie das her? Und dann muss man doch fragen, wo gehen denn eigentlich die Gewinne hin von diesen GmbHs? Logischerweise unsere Gewinne? Wir erfahren es nicht! Und die Politik lässt die Krankenkassen gewähren. Sie sieht dabei zu, wie sie ihre Aktivitäten immer weiter entfalten, außerhalb ihrer Aufgaben als Solidarkassen, und wie sie sich von einer staatlichen Institution mit klarem gesetzlichen Auftrag in ein ganz normales Dienstleistungsunternehmen verwandeln, die auf Gewinnerzielung aus sind mit unseren Beitragsgeldern. Weil wir das ohne zu protestieren zulassen, sehen sie uns als unmündige Bürger an, mit denen man umspringen kann. Das kann man sich aber nicht gefallen lassen! Drum sag ich: Wir, die 70 Millionen Beitragszahler, wir verlangen Rechenschaft über diese Aktivitäten! Die Kassen haben offenzulegen, aus welchen Geldquellen sich die Anschubfinanzierung sowie die laufenden Kosten speisen. Wohin die möglichen Gewinne gehen, und auch das möchten wir wissen, wer kommt für die Defizite auf?! Angesichts zahlreicher massiver Beschränkungen in der Patientenversorgung sind diese unternehmerischen Gründungsaktivitäten ganz besonders unverschämt.
Unverschämt ist auch die Mentalität der Selbstbedienung in den Chefetagen der Kassen. Aus Geschäftsführern wurden über Nacht Vorstandsvorsitzende. Ihre Bezüge sind höher als die der Funktionäre der Kassenärztlichen Vereinigungen. Bei der AOK erhalten sie, wie in einer börsennotierten Aktiengesellschaft, neben einem stattlichen Grundgehalt noch eine Bonuszahlung obendrauf. Wofür gibt es die fünfstellige Gutschrift? Die Kassen begründen die Sonderzahlungen ihrer Vorstände nicht, und Aufsichtsbehörden wie das Bundesversicherungsamt, die Landessozialministerien und das Bundesgesundheitsministerium, die schweigen ebenfalls dazu. Wir haben 170–200 Krankenkassen, in 16 Bundesländern, das ist doch ein Wahnsinn! Und alle befinden sich im staatlich verordneten Wettbewerb. Also für mich gibt’s das nicht, ›Wettbewerb‹ im Gesundheitswesen. Weil, was sollen denn die mit mir für einen Wettbewerb machen, wenn ich krank bin?! Wenn ich krank bin, dann brauche ich eine Behandlung und sonst nichts!«
Frau Hartwig bittet um eine Unterbrechung. Ich nutze die Gelegenheit, einen Einschub mit einem kleinen historischen Rückblick zu machen: 2004 trat das »Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung« (GKV Modernisierungsgesetz) in Kraft. Es wurde 2003 von der rot-grünen Regierungskoalition unter Kanzler Schröder beschlossen (u.a. zur Senkung der Beiträge und Lohnnebenkosten und einer neuen Verteilung 2009) war Ulla Schmidt (SPD). Einer der Bestandteile der Modernisierung war übrigens auch die Einführung der Praxis-/Kassengebühr sowie zahlloser neuer Zuzahlungen in Apotheke, Krankenhaus, Zahnarztpraxis und so fort.
Weniger bekannt ist, dass Ulla Schmidt mit dieser Modernisierung die ärztliche Schweigepflicht ausgehebelt und alle sensiblen Daten der Patienten den Kassen zugänglich gemacht hat. Bis dahin waren die Kassenärztlichen Vereinigungen bei der Abrechnung dazwischengeschaltet. Die Kasse bekam die Kosten, aber keine umfangreichen Details der Erkrankungen mitgeteilt. Nunmehr aber