Seit ich denken konnte, begleitete und prägte KD Pratz ihr Leben, kennengelernt jedoch hatten Ingeborg und er sich nie, was auch nicht überraschend war, da er seine Burg kaum verließ und dort nicht einmal seinen Galeristen empfing, wenn man den Medienberichten glauben konnte.
Dennoch tat Ingeborg alles dafür, ihrem Lieblingskünstler ein Denkmal zu setzen. Die letzten Jahre hatte Michael Neuhuber, unterstützt von Ingeborg, unermüdlich daran gearbeitet, eine Finanzierung für den Neubau auf die Beine zu stellen, und nun war es ihnen endlich gelungen, alle potenziellen Geldgeber an einen Tisch zu bringen. Ingeborg hatte mir das vor zwei Wochen erzählt und auch da diese aufgekratzte Begeisterung gezeigt, die ich bisher kaum von ihr gekannt hatte. Das war die Sitzung. Der große Schritt nach vorn.
»Ich kann nicht zu der Sitzung hin.«
»Kein Problem, ich mache das für dich. Ich rufe dich später zurück, ja?«, sagte ich und dachte wieder an das Telefonat mit unserem Bauherrn.
»Das geht nicht, die Sitzung ist jetzt.«
»Jetzt?«
»Deswegen rufe ich ja an. Die Sitzung beginnt in einer Dreiviertelstunde, und ich habe hier einen Patienten, den ich ins Krankenhaus bringen muss, ich bin im Auto.«
»Im Auto?«
»Ja.«
»Und fährst einen Patienten ins Krankenhaus?«
»Es geht nicht anders.«
»Hast du nicht immer gesagt, man muss eine gewisse Distanz …«
»Du musst mich auf dieser Sitzung vertreten.«
»Können die das nicht ohne uns machen?«
»Ohne einen Vertreter vom Förderverein geht da nichts. Alle potenziellen Geldgeber müssen da sein. Die Referentin vom Kulturministerium in Berlin ist extra angereist, die Leute vom Finanzministerium aus Hessen sind auch da. Das darf nicht platzen!«
»Aber ich habe gar keine Ahnung davon, worum es geht.«
»Du brauchst keine Ahnung zu haben. Du musst nur da sein.«
»Nichts sagen?«
»Sag einfach, dass du das gut findest, was Michael Neuhuber vorschlägt, alles andere wird sich finden. Bitte mach das, du weißt doch, wie lange es gedauert hat, die aus Berlin dazu zu bewegen, hierherzukommen.«
»Aber ich muss …« Ich zögerte. Natürlich musste ich irgendwie.
»Das ist im Stadtplanungsamt. Direkt um die Ecke von deinem Büro.«
»Aber ich bin auf einer Baustelle in Preungesheim.«
»Oh, dann musst du jetzt aber sofort los«, sagte Ingeborg, die nun sogar ihre normale Psychologinnenhöflichkeit vergaß – ich hatte mich ja noch gar nicht entschieden. »Neunter Stock, Martin-Elsaesser-Saal. Du machst das schon«, hatte Ingeborg noch gesagt, dann war sie weg.
Wenngleich ich nicht dieselbe Begeisterung aufbrachte wie Ingeborg – auch ich mochte Kunst. Zu meinem dreißigsten Geburtstag hatte sie mir eine Mitgliedschaft im Förderverein des Museums Wendevogel geschenkt, doch mein Engagement beschränkte sich darauf, Ingeborg auf die Reisen des Fördervereins zu begleiten. Das mag jetzt etwas anstrengend klingen, mit seiner Mutter und einer Menge anderer kunstbeflissener und, ehrlich gesagt, auch ziemlich anspruchsvoller Leute durch Museen zu ziehen. Aber mir gefiel das.
Ich ging durch den Rohbau in Richtung Auto. Vielleicht war es sogar gut, dass sie mich aus dieser Situation herausholte. Und als ich, anstatt mich von dem Bauherrn anschnauzen zu lassen, wieder in unseren Firmen-Passat stieg, ging mir ein Satz durch den Kopf, von dem ich im ersten Moment nicht wusste, worauf er sich beziehen sollte. Ich dachte: Es ist Zeit. Keine Ahnung woher, der Satz war einfach da. Dann stellte ich mein Telefon in den Flugmodus.
Es war viel Verkehr, sodass die Sitzung bereits begonnen hatte, als ich am Börneplatz aus dem Auto stieg. Ich ging eilig auf das Stadtplanungsamt der Stadt Frankfurt zu und sah nur einmal kurz an dem Gebäude hinauf, das ich schon oft verwundert betrachtet hatte. Dieser riesige Kasten mit der glatten Fassade aus braungelbem Backstein und quadratischen Lochfenstern, und dann diese merkwürdigen Pop-Art-Elemente, mit denen die Architekten das Gebäude versehen hatten, Stellen in der Fassade, an denen große Stücke fehlten, als wären sie herausgebissen worden, darüber eine Stahlkante, die wie eine gigantische Donauwelle auf das Dach onduliert war. Durch die gerasterte Backsteinfassade und die gleichzeitig komische Form erschien mir das Stadtplanungsamt immer wie eine seltsame Mischung aus Verwaltungsgebäude und Kulturinstitution – und so war es ja auch: In dem Gebäude befand sich das Museum Judengasse, aber auch das Kundenzentrum der Stadtwerke.
Ich eilte an der Pförtnerloge vorbei zu den Aufzügen, fuhr in das oberste Stockwerk und öffnete wenig später die Tür zum Martin-Elsaesser-Saal. Der Saal wurde fast gänzlich ausgefüllt von einem langen Tisch in der Form eines extrem in die Länge gezogenen Ovals, das an den Enden so spitz zulief, dass der Tisch mich an Saurons Auge aus Der Herr der Ringe erinnerte.
An dem Tisch hätten über dreißig Personen Platz gefunden, es waren jedoch nur sieben. Sie saßen an der breitesten Stelle vor ein paar Thermoskannen, Wasser und diesen kleinen Saftflaschen der Marke Granini, die ich sonst nirgendwo sah, bei solchen Besprechungen allerdings immer. Auf zwei auf einem Pappteller zu einem Stern arrangierten Papierservietten lagen Kekse. Ich sah Michael Neuhuber, den Direktor des Museums Wendevogel. Neben ihm saß eine Frau in einem Kostüm mit einem langen Hals, die sich mit einer erdmännchenhaft hektischen Kopfbewegung nach der Tür umgewandt hatte, als ich eintrat. Neben ihr ein junger Mann und eine junge Frau mit Laptops, während die erdmännchenhafte Frau nur ein Notizbuch und einen sehr schwer aussehenden Kugelschreiber vor sich hatte.
Ihnen gegenüber saß ein großer schwerer Mann, der etwas von einem Trinkhallenbetreiber hatte und als Einziger nicht auf einem der staksigen Eames-Stühle saß, die in diesen Saal gehörten, sondern auf einem Schreibtischstuhl auf Rollen mit verstellbaren Armlehnen und Nackenstützen und einer unermesslichen Zahl von weiteren ergonomischen Features. Auch er war von zwei Leuten begleitet, in diesem Fall zwei Männern. Der eine, neben ihm, wischte auf seinem Telefon herum, der andere auf einem iPad. Sie hatten ebenfalls kurz aufgeblickt, als ich den Saal betrat, sich dann aber wieder ihren Geräten zugewandt.
An der Kopfseite des Saals war eine Leinwand heruntergelassen, die leicht in der Klimaanlagenluft zitterte. Ein Beamer projizierte Fakten zum Museum Wendevogel darauf.
Die erdmännchenhafte Frau fixierte mich. Mit dem Karohemd, den hellen Timberland-Schuhen und der Jeans, die ich zu dem Baustellentermin getragen hatte, musste ich aussehen wie jemand, der eine Schanklizenz für seinen Craft-Bier-Shop beantragen wollte und sich in der Tür geirrt hatte. Da erkannte Michael Neuhuber mich endlich.
»Ich vertrete Ingeborg, sie ist verhindert«, sagte ich.
Er nickte hektisch.
»Dann halten wir für das Protokoll fest, dass gemäß der Förderrichtlinie nun alle maßgeblichen Institutionen vertreten sind. Der Förderverein des Museums Wendevogel wird vertreten von Constantin Marx«, sagte er, woraufhin der neben der erdmännchenhaften Frau sitzende Mann eifrig mit der Tastatur seines Laptops klapperte.
Die Frau hingegen hatte in dem Moment, wo das Wort Förderverein gefallen war, jegliches Interesse an mir verloren. Sie nickte mir kaum mehr zu, als Michael sie als Dr. Sibylle Höllinger vorstellte, die von der Staatsministerin für Kultur und Medien aus Berlin nach Frankfurt geschickt worden war. Die Namen ihrer zwei Referenten wusste Michael offenbar nicht, auch Frau Dr. Höllinger stellte sie nicht vor.
Der