So bleibt mir nur noch, Ihnen ein offenes und großzügiges Herz und eine anregende Lektüre zu wünschen!
Spiritualität der Schöpfung
Das Leben ist ein Geschenk! In jedem Augenblick, bei jedem Atemzug empfangen wir uns neu. Die Hände, mit denen Sie gerade dieses Buch halten. Die Augen, mit denen Sie den Text lesen. Die Beine und die Sitzfläche. Den Atem, wie er kommt und geht.
Wir empfangen aber noch mehr: das Licht, das Ihnen das Lesen ermöglicht. Die Sitzgelegenheit, auf der Sie es sich bequem gemacht haben. Die Stille um Sie herum, aber auch die Nebengeräusche, die Ihnen zeigen, dass Sie nicht allein sind auf der Welt. Und schließlich das Buch selbst, das zu schreiben ich eine Weile gebraucht habe, an dem der Verlag weitergearbeitet hat, für das einige Bäume ihr Leben lassen mussten, das gedruckt, ausgeliefert und nun von Ihnen geöffnet wurde. Die kleinsten Bestandteile der Moleküle, aus denen dieses Buch besteht, waren schon kurz nach dem Urknall vorhanden. Sie liegen jetzt nur in einer anderen Zusammensetzung vor Ihnen. Der unglaublich riesige Rest der Materie ist irgendwo anders im gewaltigen Universum verstreut – oder in den Zellen, die Ihren eigenen Körper bilden. All dies – unser Leib, unsere menschlichen und nichtmenschlichen Beziehungen, die Erde, aus der wir gemacht sind, auf der wir uns tagaus, tagein bewegen und zu der wir eines Tages zurückkehren – und noch viel mehr ist uns geschenkt. Moment für Moment. Keiner von uns hat es »verdient«, es ist einfach da. Es geschieht als unaufhörlicher, komplexer Prozess, dessen Teil wir sind.
Der buddhistische Mönch und Schriftsteller Thich Nhat Hanh wiederholt oft die Aussage: »Das eigentliche Wunder ist, dass wir leben!« Er meint damit, dass wir die Wunder nicht in außergewöhnlichen Ereignissen suchen sollten, sondern im Bewusstsein, was uns hier und jetzt geschenkt ist. Das gilt auch für uns Christinnen und Christen. Wir glauben, dass dieses Geschenk des Lebens einen Geber, einen Ursprung hat: Gott. Er ist für uns mehr als ein »erster Beweger«, der das Universum ins Rollen gebracht und sich dann zurückgezogen hat – er schafft weiter, unaufhörlich, Augenblick um Augenblick. Er trägt die Welt durch seine liebende Gegenwart. Sofern ich das glaube – glaube ich es nur »mit dem Kopf« oder auch »mit dem Herzen« und »mit dem Leib«, d.h., sehe ich etwas davon in meinem eigenen Erleben der Schöpfung? In meinen Sinneswahrnehmungen und meinen inneren Reaktionen darauf, im Hören auf die Stimme der anderen Geschöpfe? Papst Franziskus schreibt: »Das Universum entfaltet sich in Gott, der es ganz und gar erfüllt. So liegt also Mystik in einem Blütenblatt, in einem Weg, im morgendlichen Tau, im Gesicht des Armen« (LS 223).
Am Beginn des Exerzitienprozesses legt Ignatius dar, dass der Sinn des menschlichen Lebens im Loben, Staunen (»Verehren«) und liebevollen Dienen liegt (vgl. EB 23). Das bezieht sich zunächst auf Gott. Doch wir wissen, dass die Gebote der Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe innig miteinander verbunden sind (vgl. Mk 12,29–31). Man kann noch weiter gehen und sagen: Es sind drei Dimensionen, die stets gemeinsam wachsen. Papst Franziskus nimmt als vierte Dimension auch die Schöpfungsliebe hinzu:
»Wenn … das Herz wirklich offen ist für eine universale Gemeinschaft, dann ist nichts und niemand aus dieser Geschwisterlichkeit ausgeschlossen … Das Herz ist nur eines… Alles ist aufeinander bezogen, und alle Menschen sind als Brüder und Schwestern gemeinsam auf einer wunderbaren Pilgerschaft, miteinander verflochten durch die Liebe, die Gott für jedes seiner Geschöpfe hegt und die uns auch in zärtlicher Liebe mit ›Bruder Sonne‹, ›Schwester Mond‹, ›Bruder Fluss‹ und ›Mutter Erde‹ vereint« (LS 92).
Was kann uns helfen, diese wesentliche Erfüllung des Menschseins – Staunen, Loben, Dienen – in unserem Alltag zu entdecken und immer mehr »Fleisch werden« zu lassen? Ich meine, dass das ein zentraler Punkt ist. Man kann nur in dem Maße einen guten Umkehrprozess vollziehen, wie man »gut verwurzelt« ist, wie ein Baum, der einen festen Stand hat und dann getrost den Herausforderungen von Wind und Wetter trotzen kann.
Staunen: die Welt zu uns sprechen lassen
Um zu staunen, eine ehrfürchtige Haltung gegenüber etwas in der Wirklichkeit zu entwickeln, muss man zunächst da sein, im Hier und Jetzt. Franziskus schreibt:
»Wir sprechen von einer Haltung des Herzens, das alles mit gelassener Aufmerksamkeit erlebt; das versteht, jemandem gegenüber ganz da zu sein, ohne schon an das zu denken, was danach kommt; das sich jedem Moment widmet wie einem göttlichen Geschenk, das voll und ganz erlebt werden muss. Jesus lehrte uns diese Haltung, als er uns einlud, die Lilien des Feldes und die Vögel des Himmels zu betrachten, oder als er in der Gegenwart eines unruhigen Mannes diesen ansah und ihn liebte (vgl. Mk 10,21). Ja, er war jedem Menschen und jedem Geschöpf gegenüber ganz da, und so zeigte er uns einen Weg, die krankhafte Ängstlichkeit zu überwinden, die uns oberflächlich, aggressiv und zu hemmungslosen Konsumenten werden lässt« (LS 226).
Ich erinnere mich an eine Situation in meiner Studienzeit in Erlangen: In meinem letzten Studienjahr verbrachte ich viele Tage in der Bibliothek und lernte für die Abschlussprüfungen. Doch mit der Zeit wuchs ein Gefühl von Panik, weil mir bewusst wurde, dass ich niemals alles lesen und behalten konnte, was zu lernen war. Je länger die Lernzeiten pro Tag wurden, desto verspannter wurde ich und desto größer wurde die Panik. Was mir sehr geholfen hat, war, jeden Tag kurze Spaziergänge durch den Botanischen Garten zu machen und einfach zu schauen und wahrzunehmen. Wie viel gibt es in einem Garten im Frühling zu bestaunen! Ich konnte spüren, wie sich dabei die Verspannungen lösten. Die Angst war dadurch nicht weg, aber entmachtet, und ich konnte danach wieder klarer sehen, was wesentlich war.
Ganz in der Gegenwart zu sein ist sehr einfach, aber nicht unbedingt leicht. Es beginnt damit, die Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit bewusst auf die eigenen Körperempfindungen und Wahrnehmungen zu richten – ohne gleich darüber nachzudenken oder etwas zu bewerten. Gefühle und Gedanken dürfen sein, man kann sie freundlich annehmen und wieder ins Wahrnehmen zurückkehren. Später ist wieder Zeit zum Nachdenken über die Probleme in unserem Leben und in der Welt.
Obwohl wir leibliche Wesen sind, werden wir in unserer Kultur häufig nicht ermutigt, ganz in der Gegenwart zu sein. Zum einen sollen wir uns dem Multitasking widmen und so unsere Aufmerksamkeit auf viele Dinge auf einmal verteilen. Eine gelassene Aufmerksamkeit auf eine einzelne Sache, eine einzelne Person, die uns jetzt gegenübersteht, ist selten der Fall, wir sind es schlicht nicht gewohnt. Zum anderen wissen wir, wenn wir einmal im Hier und Jetzt angekommen sind, häufig nicht, wie wir mit der Gedankenflut aus dem Gestern und dem Morgen umgehen können. Aus der Vergangenheit kommt oft ein Gefühl von Ärger (über andere, über uns selbst, über die Welt) oder ein Schwelgen in schönen Erinnerungen. Die Zukunft drängt mit Angstgefühlen oder mit Tagträumen in unser Bewusstsein.
Im Jetzt aber ist Fülle. Angst, Ärger, Erinnerungen und Träume treten in den Hintergrund. Im Hier und Jetzt habe ich Zugang zu Gott, und zwar über meinen Leib, der »Tempel des Heiligen Geistes« ist (1 Kor 6,19). Gott ist dann kein Resultat meines Nachdenkens, sondern er zeigt sich. So wie sich mir die Wirklichkeit öffnet, wenn ich wahrnehmend dabei verweile.
Vielen hilft es, regelmäßig Sport, Achtsamkeitsübungen, Yoga oder Qi Gong zu machen, zu tanzen, zu wandern, zu singen – oder irgendeine andere Form von körperlicher oder handwerklicher Übung zu pflegen, die ins Hier und Jetzt holt. Menschliche Beziehungen, zweckfreie gemeinsam verbrachte Zeit und tiefe Begegnung, in denen man das miteinander teilt, was einen bewegt, sind ein weiterer Zugang in die Gegenwart Gottes. Wenn ich solchen Dingen Raum gebe, merke ich, wie die Welt mehr und mehr zu sprechen beginnt, wie ihr Zauber erwacht. Die Haltung der Ehrfurcht bei Ignatius, das Staunen, ist die Fähigkeit, bei diesem Zauber zu verweilen. Wage ich es, in meinem Alltag Zeiten für ein solches Verweilen freizuhalten, für ein »qualifiziertes Nichtstun«