»Hallo, spreche ich mit Herrn Gega Tsertswadse?«
»Ja, bin dran.«
»Ich bin Berdia Mikiaschwili, der Sozialarbeiter Ihres Sohnes, Lascha Tsertswadse. Lascha befindet sich auf der Polizeistation, er ist außer Lebensgefahr. Allerdings hat er nichts zum Anziehen, bis auf seine Unterwäsche. Wäre es in Ordnung, wenn wir in etwa zehn Minuten vorbeikommen und seine persönlichen Gegenstände abholen?«
»Lascha Tsertswadse war mein Sohn, er ist heute Morgen gestorben. Rufen Sie hier nicht mehr an.«
Berdia hört dem Signalton nach dem Auflegen noch eine Weile zu. Das ist normal beim ersten Anruf, redet er sich zu und wählt noch einmal. »Die gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar.« Es vergeht eine weitere Stunde und Berdia fährt den in die Decke des Inspektors eingewickelten Lascha zu sich nach Hause. Die Großmutter öffnet die Tür. An ihrem Gesichtsausdruck lässt sich ablesen, dass sie es gewohnt ist, rausgeworfene Menschen zu beherbergen. Sie setzt Lascha auf das Sofa und lässt ein Bad ein. Kurz darauf hockt er eingeschrumpelt im schaumigen, heißen Wasser und schluchzt bitterlich. Die Tür zum Bad bleibt einen Spalt offen. So ist die Regel; von ihren Familien verstoßene junge Homosexuelle hegen manchmal unchristliche Bedürfnisse. Die Großmutter schenkt Tee ein, während sie aufgeregt mit ihrem Enkel schnattert:
»Den Hintern müsste man solchen Eltern versohlen! Noch nie habe ich jemanden mehr verabscheut als Putin, aber sogar den würde ich nicht mitten im Winter auf die Straße setzen! Haben diese Leute ihr Herz mit den Mandeln entfernt bekommen, mein Schatz?«
Das Frauenhaus weigert sich – sie wollen keine Jungen annehmen. In der Familien-Notunterkunft bringt Lascha es auf eine Woche, bis ihn der älteste Sohn einer von ihrem eigenen Mann herausgeworfenen Frau als »Arschwichser« verprügelt. Durch Lascha lernt Berdia die Schwierigkeiten schwuler Ästhetik kennen. Tasja beispielsweise, die die Gemeinde Vater Jakobs im ewigen Feuer des Kriegerdenkmals von Tbilissi verbrennen wollte, war zwar lesbisch, sah einem Jungen aber dermaßen ähnlich, dass sie auf der Straße höchstens mit »Hast du Feuer, man?« angesprochen wurde. Transgender Andro Kuchianidse wurde von jedem für den Vater eines Betreuten gehalten; er war älter, breit und stämmig.
Laschas Verhängnis bestand darin, dass er genau in der Mitte zwischen den sozial anerkannten männlichen und weiblichen Geschlechtern stand. Seine Existenz erweckte nicht nur Misstrauen, sondern vor allem Irritation. Und da sich georgische Männer nicht unbedingt durch ihre Toleranz Irritationen gegenüber auszeichnen, hält ihre fragile Psyche diesem Druck nicht stand und sie müssen ihren Seelenfrieden geifernd wiederherstellen.
Jedes Monatsende bringt Berdia seine fünfhundert Lari, Münze für Münze, heim und nimmt sich davon jeden Tag ein kleines Taschengeld. Bei seinem Vorstellungsgespräch als Sozialarbeiter hatte er gelogen, er sei queer. Er dachte, so seien seine Chancen größer. Was hätte er sonst sagen sollen? Dass er weder mit einer Frau noch mit einem Mann je etwas gehabt hatte und außer seiner Großmutter mit niemandem etwas zu tun haben wollte? Er interessierte sich nun Mal nicht für Sex und damit basta. Er hatte auch nie Schmetterlinge im Bauch und überhaupt beschwerte ihn das körperliche Leben sehr. Er wartete sehnsüchtig auf die Ära, in der der Mensch digitalisiert würde und die Energie, die sein Hirn für körperliche Leistungen verschwendete, der Bewusstseinserweiterung widmen könnte. Er trug stets ein Portrait von Ray Kurzweil in seiner Hosentasche. Wenn der Alltag den Sozialarbeiter stärker plagte als gewöhnlich, griff er zu seinem Portemonnaie und rief dem Visionär des Transhumanismus zu: »Ray, wieso zur Hölle braucht das alles so lange?« Mit »das alles« meinte er die künstliche Intelligenz. Sie wird seiner sowie Kurzweils Meinung nach die Menschheit auf eine neue Evolutionsstufe hieven. Sozialarbeiter Berdia Mikiaschwili, Sohn des Solomon, plagt sein Körper sehr.
4. ERSEHNTE OHNMACHT
Laschas Mutter finanzierte ihre Familie, indem sie in Griechenland als Pflegerin arbeitete. Sein Vater ließ ihr Geld im Casino und den Rest – im Restaurant. Er hatte sich nie großartig um die Erziehung seines Sohnes geschert. Nur ein einziges Mal hatte er die Initiative ergriffen. Er bat Lascha, ihm vom Kiosk Zigaretten zu bringen, während er selbst auf dem Sofa lag. Als jener mit Hüftschwung hinausstolzierte, beschlich den Vater ein ungutes Gefühl. Am nächsten Tag schleppte er ihn zum Boxen und forderte vom Trainer, ihn besonders aufmerksam zu trainieren. Eingeschüchtert von Trainer Kako, wagten es die anderen Jungs nicht, Lascha etwas ins Gesicht zu sagen. In die Umkleide kam Trainer Kako nicht. Woher hätte Lascha wissen können, dass es der liebste Zeitvertreib der Jungs war, ihre Schwänze zu vergleichen? Er selbst hatte ein dermaßen strenges Verbot auferlegt bekommen, sich anzufassen, dass er es sich – wenn überhaupt – nur im Bett unter der Decke traute. Er schlug die Beine fest übereinander und sehnte sich, während er an sich herabblickte, nach glatten, zarten Formen. In der Umkleide zogen sie ihn aus und stellten sich in einer Reihe vor ihm auf. Er kam einfacher davon als gedacht – »He, guck mal, was der für einen Brummer hat! Na Mahlzeit!«
Die Umkleidespiele zeichneten sich durch ihre Vielfältigkeit aus – eins beinhaltete das Streicheln, Abklatschen, Kneifen, Herumziehen und Quetschen seines Hinterns. Wasserdampf und Tropfen erwiesen sich als gute Tarnung für seine Tränen. Sie nahmen ihn nicht als Jungen wahr; nannten ihn mal Natela, mal Maqwala, öfter noch – Tsitsino. Er ließ bei seinem Vater anklingen, dass er aufhören wollte. Lascha könne von ihm aus die Schule sausen lassen, aber zum Boxen würde er gefälligst so lange gehen, wie der Vater sagte, war die Antwort. Laschas Hintern wuchs, ebenso wuchs der Einfallsreichtum der Boxer. Einer nahm ihn zur Seite und erzwang Laschas Hand – er solle mal sehen, vielleicht gefiele es ihm ja. Lascha wurde übel; er kotzte ihn an. Am nächsten Tag drehten sie eine Ehrenrunde um ihn – sie wüssten, dass er gerne Schwänze und Eier streichelte, er solle sich keine Sorgen machen, es stünden genug zur Auswahl. Ob wegen des heißen Wassers oder des neuen Begrüßungsrituals – Lascha hatte an diesem Tag seinen ersten Anfall. Beim Anblick der weißen Augäpfel und des gelben Schaums, der aus seinem Mund quoll, flüchtete der nationale Genpool Hals über Kopf aus der Umkleide.
Sie schrieben die Ohnmacht einer beim Boxen erlittenen Gehirnerschütterung zu und schenkten Lascha damit einen der glücklichsten Monate seines Lebens. Die Großmutter arbeitete, der Vater fuhr das Auto seiner Frau von einer Geliebten zur nächsten, Lascha selbst aber war ganz alleine zu Hause, den ganzen Tag lang. Die Musik bis zum Anschlag aufgedreht, hatte er die Kleider von Oma und Mama auf dem Bett bereitgelegt. Er spielte Schönheitswettbewerb, Make-up, Mimik, Pantomime, Defilée – kurz gesagt, er feierte Flitterwochen mit sich selbst, und daraus folgte der Entschluss, sein Zuhause hinter sich zu lassen und eine richtige Frau zu werden, koste es, was es wolle.
»Guten Tag, Frau Tsertswadse, Ihrem Sohn geht es gut. Er bleibt über Nacht bei meiner Großmutter. Er ist verletzt, alle lebenswichtigen Organe sind jedoch heil geblieben.« Offensichtlich war Gega Tsertswadse Berdias Anruf zuvorgekommen, jedenfalls war Tekla Tsertswadses Intonation eiskalt:
»Wir haben ihn zehn Jahre lang behandeln lassen und konnten es ihm trotzdem nicht austreiben. Er weigert sich, zum Menschen zu werden, und Sie helfen ihm auch noch dabei.«
Berdia war unsicher, ob es an Skype lag oder ob sie tatsächlich so jung war, wie sie auf dem Monitor aussah. Kaum älter als dreißig. Eine Frau, schneidend und dünn wie Papier.
»Frau Tsertswadse, ich bin Sozialarbeiter. Es fällt in meinen Aufgabenbereich, mich um ausgestoßene Kinder zu kümmern. Laschas Vater weigert sich, ihn ins Haus zu lassen, ihr Sohn aber hat nichts außer seiner Unterwäsche; er hat nichts mitgenommen. Sein Ausweis, Schulbücher, Hefte, Computer, Kleidung – alles ist noch dort. Vielleicht könnten Sie vermitteln. Er muss schließlich noch zur Schule gehen, lernen … sein Leben weiterleben.«
»Weißt du was, mein Kind, es ist die Schule, die meinem Jungen diese Flausen in den Kopf gesetzt hat. Sein Gehirn wurde mit westlichen Versuchungen gewaschen. Was wird ihm dort beigebracht? Ehrung des Fleisches, Missachtung der Eltern, Hemmungslosigkeit. Was will er in der Schule, er lernt sowieso nichts. Wenn ihr ihm was Gutes tun wollt, bringt ihn zur Kirche, soll er beichten und seine Laster bereuen! Betet, dass er zum Mann wird! Er braucht keine zusätzliche Bestärkung.