Keti Ruadse
Psychotherapeutin
Psychosozialer Krisendienst
Tel.: 995555 -- -- --
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Kollektive sexualisierte Gewalt – Sexuelle Sklaverei
Natia, 38. Diagnose: Depressive Störung. Ein Suizidversuch, mehrere Versuche von Selbstverletzung. Wurde im Alter von 14 Jahren von drei Klassenkameraden im eigenen Haus vergewaltigt, einer davon war ihr Freund. Sie wurde eingeschüchtert, niemandem davon zu erzählen. Ihr wurde mit Rufmord in Nachbarschaft und Schule gedroht, was ihr Leben aller Voraussicht nach unerträglich gemacht hätte. Die Patientin betont, sie wollte unter allen Umständen vermeiden, dass ihre Eltern davon erfuhren.
Einige Tage nach der ersten Vergewaltigung wurde Natia erneut Opfer einer Vergewaltigung, erneut im eigenen Haus, diesmal durch fünf Klassenkameraden. Nach der zweiten Vergewaltigung erklärte der Haupttäter Natia, dass sie von nun an sein Besitz sei. Aus diesem Grund müsse sie jeden Anruf entgegennehmen und Zeit sowie Örtlichkeit stellen, um ihm und seinen Freunden zur Verfügung zu stehen. Ausreden, ihre Eltern seien zu Hause, sie sei krank usw., sollten ihr gar nicht erst in den Sinn kommen, da sich damit ihre Lage nur drastisch verschlechtern würde.
Im Laufe der folgenden sechs Jahre vergingen sich, in unregelmäßigen Abständen, hauptsächlich fünf Personen an Natia. Es gab jedoch auch Fälle, in denen sie der Haupttäter seinen Freunden oder Gläubigern anbot.
Zwei Befreiungsversuche der Patientin endeten mit physischer Gewalt.
Im Laufe von sechs Jahren fanden mehrere individuelle sowie Gruppenvergewaltigungen statt, zudem Fälle von Sadismus und sexueller Erniedrigung.
Es kamen vier Schwangerschaften zustande, die erste im Alter von 15 Jahren. Drei Schwangerschaftsabbrüche, eine Fehlgeburt.
Opfer sowie Täter waren im 3. Studienjahr, als ein Gruppenmitglied festgenommen wurde. Ein Zweiter setzte sein Studium im Ausland fort. Die anderen verloren vermutlich das Interesse an Natia und so konnte sie sich, im Alter von zwanzig Jahren, aus der sexuellen Sklaverei befreien.
2. LAS MAGAS
Tina findet die oberen Seitenstraßen des Rustaweli-Boulevards gesperrt vor. Ein baufälliges Haus im Sololaki-Viertel war eingestürzt und Regierungsvertreter, NGOs und Journalisten haben ihr Zelt auf der Leonidsestraße aufgeschlagen. Tina lässt ihr Auto am Ende der Arsenastraße stehen und geht zu Fuß Richtung »Las Magas« weiter. Der März spielt dieses Jahr so verrückt wie noch nie; schon seit zwei Wochen herrschen unverändert 20 Grad. Die Obstverkäufer auf dem Bürgersteig plaudern mit den Parklotsen. Eine Gruppe Touristen mit ungewaschenen Haaren hat sich vor ihrem Hostel auf ihren Rucksäcken niedergelassen und genießt mit offenen Mündern die Sonne. Im Konservatorium, das diesen Winter in die Tschawtschawadsestraße verlegt worden war, sind so früh am Morgen alle Fenster sperrangelweit offen. Drinnen jault ein Mann aus voller Kehle, begleitet von einem Klavier. Tenor, denkt Tina. Wie man in diesem Haus wohl Kinder zum Schlafen bringt?
Keti Ruadse ist eine perfekt runde Frau. Strahlend wie der Mond gibt sie Tina die mopsige Hand.
»Ich hatte wirklich nicht die Absicht, es zu lesen. Das ist keine Rechtfertigung, aber in der Nacht ist mir etwas passiert, was –«
»Die biographischen Daten sind so verzerrt, dass sich die Betroffene selbst nicht wiedererkennen würde. Die Erstellung von Fallstudien wird als eigenes Fach gelehrt. Wussten Sie das?«
»Wirklich? Nein … Also sind einige Beispiele ausgedacht?«
»Nicht ausgedacht. Die hier aufgezählten Fälle beruhen alle auf realen Biographien.«
»Alle?«
»Sie meinen den Sklaverei-Fall, nicht wahr? Das ist der wahrste von allen.«
Ruadse setzt sich im Innenhof des »Las Magas« mit dem Rücken zum ornamentverzierten Eisentor auf einen Stuhl. Über der Klimaanlage haben sich Tauben ein Nest zusammengekleistert. Gurrend flattern sie herum und der Tbilisser Staub rieselt von ihren Federn in den Cappuccino.
»Neun Fälle, schreiben Sie. Neun Fälle von Sexsklaverei gebe es in Georgien.«
»Das sind nur meine Fälle. Weiß Gott, wie viele es sonst noch gibt.«
»Ich schreibe unter anderem über Frauen; aber eher in internationalen Zeitschriften als in lokalen.«
»Von Journalisten werden wir meistens gemieden, ich weiß nicht, weshalb. Als unsere Fallzahlen stiegen, hat sich das Rehabilitationszentrum mit den Produzenten verschiedener Morgenmagazine in Verbindung gesetzt, aber nur Klatschmedien waren interessiert. Würden Sie sich als Journalistin mit diesem Thema auseinandersetzen? Eine der Betroffenen ist bereit, ein Interview zu geben. Sie lebt nicht mehr in Georgien und möchte den Vorfall, der lange zurückliegt, öffentlich machen.«
»Hmm…«
»In der Fallstudie ist sie als Natia aufgeführt.«
»Keine juristischen Probleme, oder?«
»Bei Natia?«
»Nein, generell.«
»Natia ist die Einzige, die sich dazu entschlossen hat, zu reden. Über so etwas wird normalerweise nicht gesprochen, wie Sie ja auch wissen.«
»Ist sie auch mit dem rechtlichen Teil einverstanden?«
»Tina, Natias Fall ist zwanzig Jahre her. Das kommt nicht mehr vor Gericht. Ich habe mich auf der Konferenz mit Juristen unterhalten, und ohne Beweismittel lägen die Chancen bei null, meinten sie. Wieso, wissen Sie mehr?«
»Ich weiß gar nichts, um ehrlich zu sein, ich habe mich noch nie damit auseinandergesetzt, aber … eine alte Freundin von mir ist Ermittlerin. Ich kann sie fragen, wenn Sie wollen.«
Der Stubentiger, ein »Las Magas«-Original, hatte sich längs auf dem Tisch ausgebreitet und seinen Schwanz in den braunen Aschenbecher getunkt. Teenager hatten einen Wald auf die Ziegelwand gemalt, der kaum von einem echten zu unterscheiden war. Ruadse flüstert, obwohl niemand außer ihnen im Hof ist.
»Macht Ihnen das nicht zu schaffen, sich jeden Tag so etwas anhören zu müssen?«
Die Psychotherapeutin rollt als Zeichen der Verwunderung ihre Augen gen Himmel; richtet ihren Blick nach einigen Sekunden aber wieder gerade:
»Ich mache Yoga«, entgegnet sie mit einer großen Geste, als würde sie einer Touristin eine Sehenswürdigkeit zeigen. Danach lässt sie ihren Blick noch einmal über den Innenhof schweifen und ergänzt: »Jeden Morgen.«
3. UNCHRISTLICHE BEDÜRFNISSE
In der Morgendämmerung kam der 16-jährige, spärlich bekleidete Lascha Tsertswadse grün und blau geprügelt in die erleuchtete Polizeistation am Stadteingang von Rustawi. Sein Vater habe ihn aus dem Haus geschmissen und er bräuchte Hilfe. Sozialarbeiter Berdia Mikiaschwili wurde um 7 Uhr früh in die Polizeistation bestellt. Der Notarzt hatte Lascha bereits untersucht. Trotz der Empörung der Polizisten weigerte sich der Junge, Anzeige zu erstatten. Stattdessen bat er um zwei Dinge: neue Socken sowie ein Gespräch mit seiner Mutter. Die Socken waren innerhalb von fünf Minuten aus dem benachbarten Hypermarkt besorgt; doch es gelang nicht, sich mit der Mutter in Verbindung zu setzen. Berdia telefonierte herum, aber in keiner Anlaufstelle für häusliche Gewalt war Platz. »Wir rufen zurück«, bekam er sechsmal zu hören. Niemand rief zurück. Lascha hatte sich bis über den Kopf in die Decke eingewickelt, die ihm der Inspektor gegeben hatte, und jedes Mal, wenn er sich eine Träne abwischte, fiel ihm ein Deckenzipfel aus der Hand – auch wenn er die zweite Hand zu Hilfe nahm. So litt er zwei Stunden lang, bis Berdia vorschlug, den Vater anzurufen und